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Die vergessene Kunst des Streitens

Kirche und Gesellschaft haben verlernt, den Streit der Gedanken auf produktive Weise zu führen. Schuld sind vor allem eine falsche Konsensfixierung sowie die Emotionalisierung des Diskurses.
Francisco de Zurbaráns "Die Apotheose des heiligen Thomas von  Aquin" (1631)
Foto: Archiv | Zur Zeit der Scholastik wussten Theologen noch produktiv  zu streiten.

Streiten, leiden, triumphieren – aus diesem Dreiklang, der Welt, Unterwelt und Himmel zugleich umfasst, besteht bekanntlich die Tätigkeit der Kirche. Während ihr leidender Teil, die "ecclesia patiens", im Fegefeuer die Reinigung über sich ergehen lassen muss, ohne die sie nicht zu Gott gelangen kann, ist die triumphierende Kirche, die "ecclesia triumphans", bereits an dieses letzte Ziel gelangt und jubiliert ob der Anschauung Gottes. Zur streitenden Kirche, zur "ecclesia militans", hingegen gehören all jene Gläubige, die noch auf Erden weilen. Ihre Aufgabe ist es, gegen die eigene Sünde und die Verkehrtheiten der Welt anzukämpfen und sich für die Ausbreitung des Glaubens einzusetzen.

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Blickt man vor diesem Hintergrund auf den aktuellen Zustand der katholischen Kirche, insbesondere in Deutschland, kann leicht der Eindruck entstehen, die Rede von der "streitenden Kirche" sei einer fatalen Umdeutung zum Opfer gefallen: Gestritten wird nicht mehr gegen die sündhafte Welt, sondern vor allem gegeneinander, und zwar mit dem Ziel, die eigene Machtposition zu festigen. Das Resultat ist die Bildung sich unversöhnlich gegenüberstehender Lager, über deren Grenzen hinweg Kommunikation kaum noch sinnvoll oder gar möglich scheint. Ist zwischen den synodal Bewegten, die die Kirche von Grund auf verändern wollen, und jenen, die auf einen unveränderlichen Kern der Kirche pochen, nicht schon alles gesagt? Wie aber soll sich Konsens herstellen lassen, wenn die rationale Debatte erst einmal gescheitert ist?

Die Kirche ist mit ihren diskursiven Problemen nicht alleine

Die Kirche ist mit ihren diskursiven Problemen freilich nicht alleine. Die Unfähigkeit, über die Grenzen der eigenen Blase hinaus rational zu kommunizieren, betrifft nahezu alle großen gesellschaftlichen und politischen Themenfelder. Die allgemeine Diskurskrise hat sicher vielfältige Gründe. Einer davon dürfte aber sein, dass die rechte Auffassung des Streites und sein besonderer Wert in Vergessenheit geraten sind. Was also heißt es, richtig zu streiten?

Zunächst einmal gilt es, sich darüber klar zu werden, dass nicht alles ein Argument wert ist. Schon Aristoteles mahnte an, nur über solche Positionen nachzudenken und zu streiten, "wo es zur Lösung obwaltender Zweifel der Vernunft bedarf, nicht der Züchtigung oder der gesunden Sinne". Es gibt aber eben auch Fälle, in denen die vernunftbasierte Auseinandersetzung fehl am Platz ist: "Die etwa zweifeln, ob man die Götter ehren und die Eltern lieben soll, oder nicht, bedürfen der Züchtigung", so Aristoteles, "und die zweifeln, ob der Schnee weiß ist, oder nicht, bedürfen der gesunden Sinne." Man könnte hier auch noch jene ergänzen, die nicht bereit oder in der Lage sind, sich an die Grundgesetze der Logik zu halten: Wer etwa nicht willens ist, den Satz vom Widerspruch anzuerkennen und sich freimütig und beständig widerspricht, mit dem ist rationale Kommunikation unmöglich.

Es gibt also offenbar sowohl faktische als auch logische sowie ethische Selbstverständlichkeiten des Diskurses. Diese bilden die gemeinsame Grundlage, von der ausgehend überhaupt so etwas wie ein rationaler Streit, ein argumentatives Ringen um die Wahrheit, möglich ist. Als Kinder nicht nur der Moderne, sondern vor allem auch der Post-Moderne stehen wir jedoch vor einem besonderen Problem: Nahezu alle geteilten Selbstverständlichkeiten sind einem geistig-kulturellen Dekonstruktionsprozess entweder bereits zum Opfer gefallen oder stehen derzeit heftig unter Beschuss. Um nur zwei besonders offensichtliche Beispiele zu nennen: Wie man anhand des Reizthemas "Abtreibung" sehen kann, wird nicht einmal der unveräußerliche Wert des menschlichen Lebens von allen anerkannt. Und auch eine so basale Tatsache wie die Unterscheidung von Mann und Frau, die in ihrer natürlichen Verwiesenheit aufeinander von jeher das Fortbestehen der Gattung ermöglicht haben, steht heute zur Disposition.

Die katholische Kirche hat einen entscheidenden Vorteil

Im Vergleich zur säkularen Welt hat die katholische Kirche eigentlich einen entscheidenden Vorteil: Sie hat in Form der Heiligen Schrift und einer zweitausendjährigen Lehrtradition eine gemeinsame, für alle verbindliche Basis, auf der sich alle Meinungsverschiedenheiten sachlich, rational und produktiv austragen lassen sollten. Genau an diesem Punkt setzt aber das wahre Problem an: Teile der Kirche sind offenbar nicht mehr bereit, das Fundament aus Bibel und Lehramt als solches anzuerkennen. Kein Wunder, dass unter solchen Bedingungen ein sinnvoller Diskurs nicht stattfinden kann.

Gibt es aber nicht dennoch eine Möglichkeit, auf rationale Weise über die separierten gesellschaftlichen und kirchlichen Lager hinweg miteinander zu sprechen? Wäre nicht etwa die Orientierung am Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses, wie ihn der Philosoph Jürgen Habermas konzipiert hat, ein Weg aus der Misere? Eines der Probleme mit diesem Modell der Kommunikation liegt in der Bedeutung, die es dem Konsens als Wahrheitskriterium zumisst.

Wer Wahrheit von Konsens abhängig macht, stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Denn die Wahrheit kann nur dann als objektives Richtmaß unserer Meinungen fungieren, wenn sie von diesen unabhängig ist. Weil es möglich ist, dass alle übereinstimmen und doch falsch liegen, kann faktischer Konsens kein Wahrheitskriterium sein. Habermas hat dies natürlich erkannt und daher auch nicht von faktischem Konsens, sondern von rationaler Konsensfähigkeit gesprochen. Aber dieser Trick greift zu kurz. Denn man kann in einem formalen Sinne "rational" sein und dennoch den geistigen Kontakt zur Realität verloren haben. Ja, es scheint sogar ein gewisses Ausmaß an Intelligenz und formaler Rationalität zu brauchen, um so manche irrwitzige Theorie, die heute nicht mehr nur an Universitäten kursiert, für wahr halten zu können.

Emotionalisierung als Stolperstein

Die demokratische Konsensfixiertheit taugt also nicht als Leitidee bei der Wahrheitssuche. Wo also innerhalb der Kirche heute über die Lehre gestritten wird, da kann es nicht um Meinungsmehrheiten gehen. Erst recht nicht ist die Übereinstimmung mit den Ansichten der Welt ein sinnvolles Kriterium, wenn es um theologische Streitfragen geht. Vielmehr gilt es, bei Auseinandersetzungen wieder am "Depositum fidei" – an dem Glaubensschatz, der in Form der Heiligen Schrift und der heiligen Tradition hinterlegt worden ist Maß zu nehmen. Dann kann auch ein wohlverstandener Konsens als Folge der Wahrheit – nicht als deren Ursache! – entstehen.

Ein weiterer Stolperstein des gelingenden Diskurses ist seine Emotionalisierung. Es ist inzwischen üblich geworden, die eigene, subjektive Befindlichkeit als Maßstab für die Gültigkeit eines Arguments zu halten, ganz nach dem Motto: "Wovon ich mich verletzt oder diskriminiert fühle, kann nicht wahr sein." Diese Tendenz kommt innerhalb der Kirche vor allem bei jenen Themen zum Vorschein, in denen die katholische Lehre besonders drastisch den heute gängigen Auffassungen der Welt widerspricht, nämlich bei Sexualität und Geschlechtlichkeit. Der Gegner soll durch die Zurschaustellung der eigenen Verletztheit dazu gebracht werden, seine Position aufzugeben. Bernhard Meuser hat für diese unlautere Taktik, Diskurshoheit herzustellen, den treffenden Ausdruck der "sympathetischen Erpressung" geprägt.

Und selbst wo Emotionalisierung nicht bewusst als rhetorische Waffe eingesetzt wird, ist sie doch meist destruktiv für den Diskurs. Denn die Fixierung auf die eigenen Gefühle führt dazu, dass sich die streitenden Subjekte in ihrer je eigenen Gefühlswelt verkapseln. Das Verstehen des Anderen und damit ein echter Austausch von Argumenten wird dadurch unmöglich.

Für eine sinnvolle und produktive Debattenkultur muss das Rad nicht neu erfunden werden. Es ist das vielgeschmähte Mittelalter, oder genauer: die Scholastik, die den Weg in eine vernünftige Debattenkultur weist. Wer sich etwa mit dem Werk des heiligen Thomas von Aquin beschäftigt, merkt schnell, wie sehr die Wahrheitssuche gerade vom Dissens profitieren kann, insofern er auf rationale Weise ausgetragen wird. Dazu ist es allerdings notwendig, sich die Argumente seiner Gegner probeweise zu eigen zu machen. Wenn Thomas die Positionen seiner Kontrahenten zusammenfasst, dann wirken diese regelmäßig überzeugender als bei ihren Urhebern. Thomas hatte keine Angst, seine Gegner stark zu machen, weil er wusste: Gerade im Widerstreit gestählter Argumente geht die Wahrheit als Siegerin hervor.

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