„Abusus non tollit usum.“ – „Der Missbrauch, hebt den [rechten] Gebrauch nicht auf.“ Dieses Prinzip, dass sich bereits in der römischen Rechtslehre findet und von mittelalterlichen Philosophen wie dem heiligen Thomas von Aquin auch für die Ethik fruchtbar gemacht wurde, erstreckt sich auch auf Gebote und Verbote.
So wird etwa die an sich vernünftige und moralisch gebotene Regelung des Straßenverkehrs nicht dadurch diskreditiert, dass einige Kommunen sich offenbar für berechtigt halten, durch Schikanen wie „roter“ anstelle „grüner Wellen“ bei der Ampelschaltung oder den Rückbau von Parkflächen in Innenstädten, Menschen die Nutzung ihres PKWs zu verleiden.
Bekanntlich soll die massive Geschwindigkeitsbeschränkung, nämlich Schritt-Tempo, in Spielstraßen Leib und Leben von Kindern schützen. Wer hierin eine unzulässige Gängelung erblickte, wer gar dem Staat unterstellte, er offenbare damit seine Zweifel an der prinzipiellen Fähigkeit der Bürger, sich angemessen und vernünftig zu verhalten, besitzt entweder eine tiefsitzende Phobie gegenüber Regeln als solchen oder aber feuert verbal aus der Hüfte und noch dazu, völlig unangemessen, mit Kanonen auf Spatzen.
Auch die Kommunikation braucht zwingend Regeln
Ob es gefällt oder nicht: Das gedeihliche Zusammenleben von Menschen erfordert zwingend Regeln. Regeln können aber nur dann als solche gelten, wenn Regelverstöße benannt und – wie auch immer – sanktioniert werden. Dass Sanktionen stets angemessenen sein müssen und die Verständigung darüber, was als angemessen gelten kann und was nicht, mitunter schwerfällt oder gar misslingt, trifft zwar zu, ist jedoch kein Argument, das Staat und Gesellschaft von der grundsätzlichen Pflicht entbinden könnte, das Zusammenleben der Menschen zu regulieren.
Diese Pflicht umfasst auch die Regelung von Kommunikation. Wer hier stattdessen eine „radikale Freiheit der Rede“ fordert, muss nicht nur im Elfenbeinturm geboren worden sein. Er kann aus diesem auch noch keinen Fuß vor die Tür gesetzt haben. Denn eine wahrhaft „radikale“ Freiheit der Rede umfasst nicht „nur“ die bewusste Lüge oder die Erfindung von „Fake-News“ mit der Absicht, Menschen über die Wirklichkeit zu täuschen, sondern auch die Verächtlichmachung politischer Gegner, Mobbing und Rufmord.
Wer die „radikale Freiheit der Rede“ fordert, nimmt – ob er sich dessen bewusst ist oder nicht – daher in letzter Konsequenz in Kauf, dass Menschen in die Verzweiflung und den „sozialen Tod“ getrieben werden. Mehr noch: Weil nicht jeder den Erschütterungen gewachsen ist, die ein derart zerstörerischer Gebrauch des Wortes verursachen kann, ist die Forderung nach einer „radikalen“ Freiheit der Rede gleichbedeutend mit der Erlaubnis, andere in den Suizid zu treiben.
Freiheit gibt es nur als gebundene
Aber auch fern solcher Extreme ist der radikale, durch nichts gebundene Gebrauch der Rede keine gute Idee. Schon deshalb nicht, weil er überhaupt nicht bewirken kann, was er zu leisten vorgibt. Statt die freie, fördert er lediglich die willkürliche Rede. Das kann auch gar nicht anders sein. Denn echte Freiheit, Freiheit, die diesen Namen verdient, gibt es nur als gebundene. Erst das unterscheidet sie von Willkür.
Ferner gilt: Die „radikal“ freie Rede ist zugleich die verantwortungslose. Zur Ermöglichung eines gedeihlichen Zusammenlebens müssen Staat und Gesellschaft Menschen für alle ihre Taten verantwortlich halten. Dass Menschen in sozialen Netzwerken nicht mit ihrem tatsächlichen Vor- und Nachnamen zu Wort melden und für dieses einstehen müssen, sondern sich hinter anonymen und gefakten Profilen verstecken können, fördert denn auch nicht freie Rede, sondern bloß die verantwortungslose. Die aber zerstört Gemeinschaft und zersetzt Gesellschaft. Und weil der Mensch von Natur aus ein „zoon politikon“, ein soziales Wesen, ist, zieht sie letztlich auch ihn selbst in Mitleidenschaft.
Bei Licht betrachtet ist der Streit um die „radikale“ oder die an Wahrheit gebundene Freiheit der Rede auch gar kein neuer, der erst durch Donald Trump und sein Gefolge aufgeworfen wurde und in dem es sich nun neu zu positionieren gelte, sondern ein jahrtausendalter. Einen, den schon Sokrates, Platon und Aristoteles mit den Sophisten ausfochten.
Populismus und Sophismus
Für Sophisten, die bedauerlicherweise nicht mit der Antike untergangen sind, sind Worte keine Zeichen, entwickelt und gebraucht, um eine Sache oder einen Sachverhalt möglichst treffend zu bezeichnen, sondern Waffen. Entwickelt und gebraucht, um Macht über andere zu erlangen. Debatte und Dialog sind für Sophisten denn auch keine Instrumente zur Wahrheitsfindung, sondern der Manipulation. Wahrheit, von Thomas von Aquin im Mittelalter als die „Angeglichenheit des Verstandes an das Seiende“ definiert, gibt es für Sophisten gar nicht. Ihrer Ansicht nach gibt es, modern gesprochen, lediglich „Narrative“, die miteinander im Wettstreit liegen. Weshalb es gelte, den eigenen mit ausgefeilter Rhetorik, die auch vor List und Betrug nicht zurückschreckt, oder auch bloß einem gerüttelten Maß an Dreistigkeit zum Durchbruch zu verhelfen.
Der katholische Philosoph und Thomas-Interpret Josef Pieper hat darauf hingewiesen, dass ein solcher, die Wirklichkeit entstellender Missbrauch der Sprache keine Kleinigkeit, sondern eine überaus ernste Angelegenheit ist. Weil nämlich „Wort und Sprache“ „das Medium der geistigen Existenz“ der Menschen seien, könne, „wenn das Wort“ verderbe, auch „das Menschsein“ weder „unbetroffen“ noch „unversehrt“ bleiben. Wer „in bewusster Handhabung des Wortes“ rede und wem es dabei „auf etwas anderes ankommt als auf Wahrheit“, der betrachte „den anderen nicht mehr als Partner“, respektiere ihn nicht „als menschliche Person“, sondern behandele ihn als „ein zu bearbeitendes Objekt“, „das einer ,Behandlung‘ ausgesetzt wird“.
Es fällt nicht schwer, die Populisten heutiger Tage mit den Sophisten des antiken Griechenlands verwandt zu wähnen. Nicht nur, weil auch Populisten Macht über Wahrheit und Erfolg über Gerechtigkeit stellen. Sondern weil auch sie sich der Sprache in der Absicht bemächtigen, andere hinter die Fichte zu führen.
Dem Vater der Lüge auf den Leim gegangen
Für den Katholiken verbietet sich ein nonchalanter Umgang mit der Wahrheit allein deshalb, weil mit Jesus Christus „das Wort“ nicht nur „Fleisch“ wurde, und sich uns als „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ vorstellt. Sondern auch, weil eben jener Christus, Gottes Widersacher, den Teufel, als den „Vater der Lüge“ ausweist. Wer also in der Lüge als „radikal freien Rede“ ein wie auch immer geartetes Moment der Freiheit auszumachen können glaubt, hat Grund sich zu fragen, ob er ihm nicht auf den Leim gegangen ist.
Der Missbrauch von Wort und Sprache, ist jedenfalls kein Ausdruck von Freiheit, sondern der Missbrauch eben dieser. Staat und Gesellschaft sind keineswegs gezwungen, dem tatenlos zuzuschauen. Sie sind vielmehr verpflichtet, sich wenigsten den fürchterlichsten Auswüchsen, wie dem Rufmord, entschieden in den Weg zu stellen. Dass Herrschende ihre Macht auch dazu missbrauchen können, den rechten Gebrauch der Rede unterdrücken, ist keine neue oder irgendwie überraschende Erkenntnis, sondern etwas, das von je her zum Handwerkszeug von Diktatoren zählt. Deshalb gilt auch hier: „Abusus non tollit usum.“ – „Der Missbrauch, hebt den [rechten] Gebrauch nicht auf.“
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