Ist Wahrheit ein „totalitäres Konzept“? Oder ist vielmehr „Relativismus“, die Missachtung der Frage nach der Wahrheit, das Problem unserer Zeit? Liest man die Frage politisch, dann ist die Antwort gar nicht mehr so einfach – und kann gerade für Katholiken Anlass zur Verwirrung sein. Schuld hat in gewisser Weise die ganz große Weltpolitik: da tritt erstmals eine neue US-Administration an, die auf zahlreichen Spitzenposten mit strenggläubigen Katholiken besetzt ist, erstmals beeinflussen auch spannende katholische Intellektuelle spürbar die neue Politik. Und jetzt? Ist von Zollkrieg und Annexionen die Rede. Das Vertrauen, dass im Handeln des „neuen Sheriffs“, wie Vizepräsident J.D. Vance die gewandelte US-Führung unter Trump auf der Münchner Sicherheitskonferenz nannte, irgendeine tiefere Weisheit verborgen ist, schwindet rapide. Dafür kursiert zunehmend die Einschätzung, im Trump-Lager gedeihe eine Art neuer machtbewusster „Wokeismus von rechts“, genauso identitätspolitisch motiviert, genauso uninteressiert an universalen Maßstäben, ja an der Wahrheit selbst, wie der ältere von links. Trump selbst, der zu diversen politischen Themen seine ganz persönliche Wahrheit zu haben scheint, ist dafür bestes Beispiel.
Die Motivation zu diesbezüglichen publizistischen Einlassungen – etwa hier oder hier – boten aber nicht nur besorgniserregende Entwicklungen jenseits des Atlantiks, sondern auch in Deutschland, nämlich durch die publik gewordenen Arbeitsgruppenpapiere aus den Koalitionsgesprächen. Sie bilden den gewissermaßen europäischen Pol zweier gegensätzlicher Extrempositionen zum Thema Meinungsfreiheit – und damit auch zur Frage der besonderen Schutzwürdigkeit der Wahrheit. Die andere ist die erwähnte Rede des US-Vizepräsidenten in München.
Zwei Deutungen von Desinformation
Während für Vance „Desinformation“ – laut der deutschen Wikipedia definiert als in bewusster Täuschungsabsicht verbreitete falsche Information – ein „hässliches Wort aus der Sowjetzeit“ ist, mit dem Mächtige alternative Standpunkte in ein schlechtes Licht rücken wollen, gar zensieren wollen, stellt sich die Situation für die kommende deutsche Koalition gänzlich anders dar: „Gezielte Einflussnahme auf Wahlen sowie inzwischen alltägliche Desinformation und Fakenews sind ernste Bedrohungen für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt“, heißt es im Verhandlungspapier der Arbeitsgruppe Kultur und Medien. Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen sei „durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt.“ Deshalb müsse die „staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit“ gegen „Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können.“
Angst vor dem übermächtigen zensierenden Staat hier, Sorge vor der Manipulation durch äußere Feinde da: sowohl die US-Regierung als auch die künftige deutsche Regierung argumentieren durchaus aus einer kulturellen Prägung heraus, die beide Gesellschaften nicht erst seit gestern aufweisen. Verkomplizierend wirkt bei der Betrachtung der derzeitigen amerikanischen Position, dass deren „Freie-Rede-Absolutismus“ (Elon Musk) unter dem Verdacht steht, teils nur instrumentell zu sein – also unter demokratischer Administration Meinungsfreiheit zu fordern, nach dem Wahlerfolg nun aber selbst auf illiberale Weise Macht auszuüben. Als Beispiel werden etwa Listen mit verbotenen Wörtern angeführt, die US-Behörden, weil ideologisch nicht mehr opportun, neuerdings nicht mehr verwenden dürfen – etwa das Wort „Klimakrise“. Womit wiederum der Verdacht erhärtet würde, auch zuvor sei es eben gar nicht um den freien Austausch auf der Suche nach Wahrheit gegangen, sondern um die Möglichkeit, ungehindert Lügen zu verbreiten, darum, durch eine Kakophonie von der Realität losgelöster Sichtweisen die Basis eines gemeinsamen Verständnisses der Welt zu verunmöglichen, sodass schlussendlich nur noch die Macht normativ wirkt.
Der Wahrheit verpflichtet
Wo stehen „wir“ europäische Katholiken – vielleicht hin und hergerissen zwischen dem vordergründigen Charme des selbstbewussten Katholizismus innerhalb der US-Regierung und der europäischen Staatsgläubigkeit, die dafür ja irgendwie mit dem Anspruch antritt, so etwas wie die objektive Wahrheit zu verteidigen? Genau hier scheint für den ein oder anderen Katholiken ein wunder Punkt zu liegen. Denn sind es nicht gerade auch Katholiken, denen die (bewusste) Lüge eine verabscheuenswürdige Sünde sein muss? Die die Wahrheit gegen die „Diktatur des Relativismus“ zu verteidigen haben? Und denen deshalb ihre Intuition sagt, das liberale (amerikanische) Ideal, im öffentlichen Raum alles, auch evident Unwahres, behaupten zu dürfen, sei letztlich aus katholischer Warte kein erstrebenswertes? Wissen wir nicht, dass der Mensch als sündhaftes Wesen anfällig für Lügen ist? Kann er dann mit unbeschränkter Meinungsfreiheit überhaupt etwas anfangen? Oder ist diese nur das Vehikel, mit dem jeder Wahrheitsanspruch zerstört werden soll, und die daher auf paradoxe Weise dem Totalitarismus den Boden bereitet?
Auch die katholische Sozialethik scheint sachte in diese Richtung zu weisen; so spricht das „Kompendium der katholischen Soziallehre“ von einem „Recht auf objektive Information“, eine Information, „die auf Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität gründet.“
Letztlich gilt es, verschiedene Motive sauber zu trennen, und sich dabei nicht von weltanschaulichen Sympathien oder Abneigungen abhängig zu machen. Deutschland muss sich zur Realität des tendenziell freieren Diskurses verhalten, der mit der Dominanz der amerikanischen Techkonzerne und dem US-Regierungswechsel auch hier Einzug gehalten hat. Die deutsche Debatte auf Elon Musks Plattform „X“ ist – Stand jetzt – ziemlich amerikanisch frei. Auch völlig abseitige Verschwörungstheorien und tatsächliche russische Propaganda können von Jedermann weitgehend ungehindert verbreitet werden. Will man diese Freiheit nun im Namen der Wahrheit einhegen – oder ihre Beschränkung zumindest katholischerseits so rechtfertigen?
Es mag sich christlich anfühlen, angesichts der menschlichen Verführbarkeit Zweifel an der Fähigkeit der Bürger zu hegen, im Informationsstrom selbst das Wahre vom Falschen zu scheiden, oder auch nur aus der eigenen, möglicherweise Fake-News-infizierten Filterblase hinauszutreten. Gleichzeitig ist der Mensch auch gemäß katholischer Lehre mit Vernunft begabt. Dass so etwas wie ein rationaler Diskurs, in dem der „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ wirkt, grundsätzlich möglich sein muss, ist keine Einsicht, der Katholiken widersprechen müssten. Aus demokratischer Perspektive ist die Annahme grundsätzlich rational abwägender Bürger sogar mehr oder weniger unerlässlich. Die Herrschaft des Volkes hat keinen Sinn, wenn dieses zur Einsicht per se nicht in der Lage ist.
Drei Argumente für Meinungsfreiheit
Wer die Meinungsfreiheit beschränken will, macht demgegenüber ein autoritäres Argument: Der Beschränkende – im deutschen Fall die „staatsferne Medienaufsicht“ – muss mit größerer Sicherheit als der Normalbürger entscheiden können, was falsch und also Manipulation (oder gar „Hass und Hetze“) ist. Dabei gibt es drei Probleme: Zuerst die Anmaßung überlegener Urteilskraft. Wissen öffentliche Einrichtungen es wirklich besser? Erinnert sei etwa an den legendären Tweet des Bundesgesundheitsministeriums vom März 2020, nachdem die Behauptung, es würden „bald massive weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens“ angekündigt, „Fake News“ wäre. Zwei Tage später wurde der erste Lockdown beschlossen. Welche Kriterien will man anlegen, was nachweislich falsch wäre? Viele Sachverhalte entziehen sich absoluter Beweisbarkeit. Auch in den Naturwissenschaften gibt es oft keine definitiven, abschließenden Erkenntnisse, eher schon einen mehr oder weniger komplexen Stand der Diskussion.
Zweitens herrscht die Gefahr des Machtmissbrauchs. Es gibt einen gigantischen Anreiz für die Träger politischer Macht, etwa „Hass und Hetze“ in einer Weise zu definieren, die Kritik an ihrem Handeln erschwert. Zweifel sind angebracht, dass diesen der wenigstens indirekte Zugriff auf eine Medienaufsicht wirklich versagt werden kann. Mit dem Argument des Schutzes vor Hass wurde schon vor Jahren der Strafrechtsparagraph 188 verschärft, auf dessen Grundlage Spitzenpolitiker in der letzten Legislaturperiode hundertfach Bürger für Petitessen anzeigten, was mitunter gar Hausdurchsuchungen zur Folge hatte, und die Kontrolle der Mächtigen durch die öffentliche Meinung jedenfalls nicht erleichtert.
Und drittens stellt sich die Frage, ob nicht durch öffentliche Sanktionierung von Wahr und Falsch eigentlich das hohe Gut der Wahrheit viel stärker beschädigt wird als durch auch radikal unbeschränkte Meinungsfreiheit. Denn gerade die öffentliche Verordnung einer Wahrheit, an deren Definition Desinformation und Fake News zu messen seien, unterwirft die Wahrheit der Macht. Sie wird dann nicht mehr nur um ihrer selbst verfolgt, sondern auch aus Angst vor Bestrafung. Ob die dann offizielle Wahrheit aber tatsächlich wahr ist, kann nicht mehr hinterfragt werden. Wird der Anspruch der Wahrheit damit nicht viel systematischer zerstört als durch die Konfrontation mit unterschiedlichen, auch falschen Behauptungen? Gerade mit dem Verfall der transatlantischen Beziehung spricht viel dafür, dass die Gefahr für die Wahrheit in Deutschland und Europa eher aus dieser Richtung kommt. Die Koalitionspapiere bieten dafür recht eindrückliches Anschauungsmaterial.
Zur Wahrheit kann man nicht gezwungen werden, und wer sie liebt, wird sie nicht vorschreiben wollen. Damit aber ist die Einschränkung der Lüge immer problematisch. Das sollte bei aller ostentativen Abwendung vom amerikanischen Vorbild nicht vergessen werden.
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