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Den Glauben berührt

Der zum Zeitgeschehen asynchrone Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger feiert seinen 90. Geburtstag.
Hans Magnus Enzensberger
Foto: dpa | Auch wenn er nicht für ein Hauptwerk bekannt ist, stand Hans Magnus Enzensberger doch immer im Licht der literarisch interessierten Öffentlichkeit.

Der auf ihren verstorbenen Ehemann gemünzte biographische Titel „Wir hatten ein barbarisches, schönes Leben“ von Gretchen Dutschke trifft nicht nur auf den öfters verklärten Apo-Führer zu, sondern auch auf eine andere Ikone der 68er-Bewegung: Kaum ein damals junger Intellektueller, der den angeblichen Mief der Adenauer-Restauration beseitigen wollte – von Jürgen Habermas, Martin Walser und Günther Grass einmal abgesehen –, hat die Republik in literarischer Hinsicht so geprägt wie Hans-Magnus Enzensberger.

1929 als Sohn eines Postbeamten geboren, ist Enzensberger in die „Verschwörung der Flakhelfer“ (Günter Maschke) involviert. Durch glückliche Umstände kann der Fünfzehnjährige den Gefechten an der „Heimatfront“ entgehen. Die Prägungen, die er in Krieg und Diktatur erfährt, bleiben dauerhaft maßgebend.

Der promovierte Germanist engagiert sich in der einflussreichen Gruppe 47. Es kommt schnell zu einem einzigartigen Höhenflug. Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises im Jahre 1963 trägt dazu bei. Es ergibt sich für Enzensberger im gleichen Jahr sogar die Möglichkeit, an einer internationalen Schriftstellerdelegation teilzunehmen. Prominente Mitreisende in die Sowjetunion sind das Autorenpaar Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Enzensberger schildert seine Eindrücke in seinem 2014 unter dem Titel „Tumult“ herausgekommenen Bericht, der wichtige Einblicke in sein Leben gibt, auch in die Turbulenzen seiner ersten beiden Ehen.

Distanzierung vom Elternhaus unvermeidlich

Enzensberger ist vieles: Lyriker, Dramatiker, Hörspielautor, politischer Schriftsteller, Romancier, Übersetzer und Kinderbuchautor. Bedeutende Unternehmungen sind mit seinem Namen verbunden. Dazu zählt seine Tätigkeit als langjähriger Herausgeber des „Kursbuches“, aber auch als Verleger der „Anderen Bibliothek“. Seine vielfältigen Fähigkeiten haben freilich dazu geführt, dass er sich öfters ein wenig verzettelt. Kann der literarisch gebildete Durchschnittsbürger von herausragenden Literaten des letzten Jahrhunderts – beispielsweise von Heinrich Böll und Günter Grass – ein zentrales Werk nennen, meist einen Roman, so ist das bei Enzensberger nicht der Fall. Für einen Wegbereiter neuer Verhältnisse in den 1950er und 1960er Jahren war eine Distanzierung von dem kleinbürgerlich-katholisch geprägten Elternhaus nicht zu vermeiden, obwohl sich dieses als resistent gegenüber der NS-Diktatur erwiesen hatte.

Enzensbergers Werk ist auch hinsichtlich seiner religiösen Bedeutung ausführlich interpretiert worden. In dem Gedichtband „Landessprache“ offenbare sich ein „nicht unbeträchtlicher Bodensatz von Theologie“, so sein Biograph Jörg Lau. Wie bei anderen Schriftstellern der Gegenwart finden sich Elemente religiöser Sprachtradition, die aber bei Enzensberger an ein „Niemand“ gerichtet sind. Es gibt eine sprachliche Annäherung an die Transzendenz. Diese bleibt meist eher unbestimmt. Glaubensspezifische Metaphern lassen sich einige ausmachen. Reicht es, den Himmel nur als Himmel zu sehen „und sonst nichts“ wahrzunehmen? Ein bisschen wenig, mag man aus gläubiger Perspektive einwenden.

„Warum Gott die Menschen nicht in Ruhe lässt“

Auch in diversen Interviews bleibt Enzensberger undeutlich. Interesse am Glauben ist erkennbar, doch die Skepsis scheint zu überwiegen. Er verfasste „Wissenschaftliche Theologie“ und „Kleine Theodizee“ überschriebene Gedichte. Deren Inhalte kommen jedoch nicht ohne Ironie und Doppeldeutigkeit aus. In dem Gedichtband „Blauwärts“ tritt ein göttlicher Sprecher auf. Er verweist darauf, dass fortgeschrittene Wissenschaftlichkeit nicht anders kann, denn Stochastik, Selbstorganisation und Autokatalyse in die Erklärung des Schöpfungsprozesses einzubeziehen, der freilich allem menschlichen Experimentieren und jedweder kreatürlichen Freiheit vorausgeht. Enzensberger käme niemals auf den Gedanken, theologische Stoffe systematisch in Poesie zu verwandeln, wie er es bei wissenschaftlichen Themen öfters versucht hat. Indessen ist ihm der überlieferte Glauben nicht gleichgültig, rätselt er doch darüber, „warum Gott die Menschen niemals in Ruhe lässt, umgekehrt auch nicht“.

Worin liegt die Besonderheit des enorm produktiven und gebildeten Autors, der nie große Popularität erreichen konnte? Es gelingt ihm hervorragend, wissenschaftliche Stoffe poetisch zu verarbeiten. Stellvertretend hierfür ist sein Buch „Die Elixiere der Wissenschaft“ zu nennen, erschienen 2004. Prominente Persönlichkeiten wie Kurt Gödel, Gottfried Wilhelm Leibniz, Carl von Linné und Charles Darwin, aber auch vergessene wie der Kunst- und Architekturhistoriker Sigfried Giedion werden samt OEuvre in Poesie übertragen.

Deutlich wird beim Studium der Texte, wie sehr es dem Verfasser darum geht, Poesie und Wissenschaft als verschiedene Zugänge zur Wirklichkeit herauszustellen. Auch „Enzensbergers Panoptikum“, 2012 erschienen, knüpft in Form von zwanzig Zehn-Minuten-Essays an die Leidenschaft an, wissenschaftliche Debatten – von der Mikroökonomie über die Erfindung von Nationen am Schreibtisch bis zur Bewertung der Wissenschaft als säkulare Religion – essayistisch zu präsentieren.

Enzensberger nahm linke Gutmenschen auf's Korn

Von beinahe zeitloser Aktualität ist Enzensbergers Essayistik. 1993 publizierte er die „Aussichten auf den Bürgerkrieg“. Neben vielen Beobachtungen aus der Zeit der Wende ist immer noch von Interesse, wie der Verfasser die linken Gutmenschen auf's Korn nimmt. Die letzte Stufe der Rousseau-Rezeption finde demnach in der Sozialarbeit statt. Mit ein bisschen Psychotherapie werde auch das schlimmste Verbrechen noch akzeptabel. Fraglich sei lediglich, ob derartige Entschuldigungsrituale auch für die Taten von Höß und Mengele gelten. Am Ende der Erörterungen steht die Kritik einer universalistischen Ethik, die weltweit alle Probleme zu lösen versuche außer jene vor der eigenen Haustür. Gewiss, ein bisschen starker Tobak! Die vorherrschende politische Korrektheit hat solche Sätze nicht gern. Sie sind aber Teil von Enzensbergers asynchroner Grundhaltung.

Auch in den letzten Jahren erregte Enzensberger mehrmals die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Etwa als er „Hammerstein oder der Eigensinn“, die facettenreiche Geschichte der Familie Hammerstein, veröffentlichte, oder 2011 eine fulminante Kritik des bürokratischen EU-Ungetüms („Sanftes Monster Brüssel oder die Entmündigung Europas“) lieferte.

Dem fortschreitenden Alter entsprechend hat er sich – ohne christlich sein zu wollen – schon vor längerer Zeit den letzten Dingen geöffnet. In einem Gedicht weist er auf die „kleine Pilgerin“ hin, die womöglich die „unsterbliche Seele“ sucht. Dieser bislang eher untergeordnete Aspekt dürfte am Ende eines schaffensreichen Lebens wichtig werden. Ob es sich dabei nur um Kompensationsversuche manchmal bedrückender Endlichkeitsgefühle handelt, sei dahingestellt.

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