Selten wurde in einer Zivilisation so viel von Natur gesprochen wie heute in der Abendländischen: Kein Tag vergeht, ohne dass wir in den Medien mit verschiedensten Personifizierungen der „Mutter Erde“ konfrontiert werden, der mittlerweile seitens eines weitgehend linksgrünen medialen und politischen Establishments ein fast schon pantheistischer Kult gewidmet wird, der leider sogar schon bis in gewisse Teile der Kirchen eingedrungen ist. Wer hier zur Vorsicht mahnt und etwa auf den absoluten Vorrang Gottes vor seiner Schöpfung verweist, wird entweder als patriarchalisch kritisiert oder aber gar als Gnostiker, da er ein „negatives“, ja dualistisches Bild der Natur predige.
Dabei ist die Lehre der Kirche in dieser Hinsicht immer recht klar in ihrer Analyse pantheistischer Naturverehrung gewesen und hat dabei auch einen Widerhall in vielen anderen großen Religionen gefunden. „Sie verehrten das Geschöpf statt des Schöpfers“, lautet schon im Römerbrief (1,25) eine Kritik an den Zeitgenossen des Apostels Paulus, denn die „Natur“ ist keine von Gott unabhängige Entität, und schon gar keine, die eine wie auch immer geartete Anbetung genießen sollte. Was an und in ihr verehrungswürdig scheint, erweckt diesen Eindruck immer nur durch die Tatsache, dass sich hier mal mehr, mal weniger gebrochen die göttliche Schöpfungsabsicht widerspiegelt, wir in den einzelnen Dingen der Welt also immer nur Gott erkennen – was übrigens auch für die echte menschliche Schönheit gilt, die als wahrlich „schön“ nur insoweit gelten darf, als sie auf jenes Urbild des Wahren, Guten und Schönen verweist, von dem der Mensch ein durch Zeit, Raum und die Ursünde beschränktes Ebenbild ist.
Die Natur kann daher für uns zwar ein Weg zu Gott sein und selbst außerhalb der historischen Offenbarung des Christentums fundamentale Glaubenswahrheiten erschließen, wie wir ebenfalls im Römerbrief lesen können (1,19-20): „Denn was man von Gott erkennen kann, ist ihnen offenbar; Gott hat es ihnen offenbart. Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit.“ Doch gerade darin liegen auch die Grenzen der Naturbewunderung: Sie muss über ihr unmittelbares Objekt hinausweisen, um sinnhaft zu sein.
Aber da doch unzweifelhaft ausnahmslos alles Irdische von Gott geschaffen wurde, wie kann es da zu Graduierungen von Wahrheit und Schönheit kommen, vom Problem der Sünde und des Bösen ganz zu schweigen? Wenn Gott die Welt hervorgebracht hat, wieso ist sie dann nicht gänzlich gut; ja mehr noch, wenn Gott als Schöpfer durch sein heiliges Sein allen irdischen Dingen ihr Leben einhaucht, wieso kann man dann nicht gleich die Natur als Gottheit anbeten, wo Gott doch in allem ist, wie es – angeblich – die Heiden tun?
Reinen Pantheismus gibt es nicht
Wir nähern uns hier schwierigen Fragen der Kosmogonie und der Theodizee, doch muss zuerst betont werden, dass ein echter, „reiner“ Pantheismus selbst in der Geschichte der polytheistischen Religionen so gut wie inexistent ist – immer wieder steht am Ursprung der Zeit eine einzige, über alles erhabene Gottheit, die dann zwar oft genug nach dem Schöpfungsakt scheinbar hinter diesen zurücktritt, um die Geschäfte der Welt einem wie auch immer gearteten Pantheon zu überlassen, trotzdem aber nicht mit der Welt identisch ist und meist auch am Ende der Zeiten in eschatologischer Funktion erneut in Erscheinung tritt; Symbole einer Schöpfung, welche das ewige Überfließen des Schöpfers in keiner Weise begrenzt, wie wir auch in der Bhagavad Gita (9,4) lesen: „Dieses ganze Universum ist von mir in meiner unmanifestierten Form durchdrungen. Alle Wesen weilen in mir, doch ich weile nicht in ihnen.“
Wozu aber überhaupt die Schöpfung – wieso konnte Gott nicht an sich selbst genug haben? Diese Frage projiziert menschliche Vorstellungen von Zeit und Raum auf einen Ursprung, der außerhalb beider Kategorien steht: Die „Stunde Null“, bis zu der Gott außerhalb seiner Schöpfung existiert, ist ein verstandesmäßiger Notbehelf, der nur aus der Perspektive der Welt, nicht aber Gottes Sinn macht. Denn für diesen gibt es kein Vorher und Nachher, keine Ungewissheit, keine Trennung zwischen Gedanken, Worten und Werken – das Absolute, als Zusammenfall der Gegensätze vor aller Zeit, schließt die Gesamtheit aller Potenziale schon immer in sich ein, und nur wir, als fleischgewordene Gedanken Gottes, durchleben unsere Individualität in Kategorien einer Beschränktheit, die auf die Transzendenz anzuwenden hieße, jene ihrer Allmacht zu entkleiden, wie christliche Denker von Pseudo-Dionysios Areopagita bis hin zu Cusanus ebenso wussten wie viele neoplatonische, daoistische, hinduistische oder kabbalistische Mystiker, die Gott mit dem Namen der transzendenten Einheit, des Dao, des Brahman oder des En Soph belegten.
Das göttliche Licht steht gegen das Nichts
Eine zweite Frage ist die nach dem Verhältnis zwischen Schöpfung und Schöpfer: Erstere verdankt ihre Existenz ausschließlich Letzterem, ist aber weder in ihrer Gesamtheit noch in ihren Teilen mit diesem identisch. Gott ist zwar als Prinzip des Seins und der Einheit noch im kleinsten seienden Ding „ganz“ anwesend und somit natürlich auch im Menschen, aber ebenso, wie sich das Licht auf einer Fläche spiegelt und somit auch weitergibt, ohne sich dadurch doch zu erschöpfen oder seiner Quelle etwas zu nehmen, so dass der Koran zu Recht sagt: „Wohin auch immer Du Dich wendest, Du blickst auf Allah” (Q. 2,115). Doch was ist in der Realität jene Fläche, auf der sich das Licht metaphorisch bricht und spiegelt? Es ist weder ein eigenständig neben Gott stehendes Prinzip, noch eine durch die Schöpfung in Gang gebrachte Verdoppelung, sondern vielmehr das Nichts, das dem Sein eben nur asymmetrisch entgegengestellt werden kann, und in den die Gottheit hinein ausstrahlt: „Gott ist Licht, und keinerlei Finsternis ist in ihm“ (1 Joh. 1,5).
Wie schon der hl. Augustinus wusste, liegt hier aber auch der Schlüssel zum Verständnis des Bösen: Nicht als eigenständiges dualistisches Prinzip, sondern Abhandensein oder doch Abschwächung des Guten, als „privatio boni“. Anders ausgedrückt: Wann immer ein geschaffenes Ding sich selbst absolut setzt – also nicht seinen göttlichen Anteil, seine Seele, sein wahres „Ich“-, als das einzig Relevante begreift, sondern vielmehr seine partikulare und prekär zwischen Sein und Nichts gemischte Natur, also sein „Ego“, zum „Maß aller Dinge“ erhebt –, und somit gegen die göttlichen Gesetze verstößt, handelt es „böse“, wiederholt das „non serviam“ Lucifers und wirkt sich somit die eigene „Strafe“, wie auch der Koran suggeriert (Q. 4,79: „Was Dich an Gutem trifft, ist von Allah; was Dich an Bösem trifft, ist von Dir selbst.“).
Der Mensch kann Gott als Gedanken fassen
Doch zurück zur Natur. Fraglos ist sie von vielerlei sichtbaren und unsichtbaren Kräften durchwaltet, die teils frei das Licht spiegeln, teils es für sich allein besitzen wollen. Der Mensch ist in dieser Architektur in einer ebenso herausgehobenen wie diffizilen Situation: Durch seine Vernunftbegabung ist er von allen tierischen Wesen das einzige, das den Gedanken an Gott fassen kann, doch durch seine Verankerung in der Materie kann dieser Gedanke zeitlebens im Gegensatz zu den Geistwesen nie zur völligen Gewissheit aus eigener unmittelbarer Anschauung durchdringen. Dies ist aber letztlich die eigentliche Größe und Vornehmheit des Menschen und auch sein Auftrag: Nämlich schon im Hier und Jetzt aus freien Stücken zu Gott durchzudringen, indem er alles, was nur vorübergehend an ihm ist, zugunsten des ewigen Lichts zurückstellt, wie auch im Johannesevangelium zu lesen ist: „Das ist das ewige Leben: Dich, den einzigen wahren Gott, zu erkennen und Jesus Christus, den Du gesandt hast“ (17,3). Aus dieser Perspektive spielen auch die konkreten materiellen Lebensumstände des Menschen keinerlei Rolle, da allein seine Nähe zu Gott darüber entscheidet, welches Schicksal er sich wählt und als welcher Gedanken Gottes er in die Ewigkeit eingehen will, aus der er sich aus Gottes Perspektive freilich nie gelöst hat.
Der Autor ist Altphilologe und Publizist.
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