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Leibniz, Kant und die Katastrophe von Lissabon

Vor 270 Jahren, am 1. November 1755, bebte in der portugiesischen Hauptstadt die Erde. Eine kulturelle Erschütterung für den ganzen europäischen Kontinent.
Die Ruinen des königlichen Opernhauses
Foto: gemeinfrei / wikimedia commons | Die Ruinen des königlichen Opernhauses in Lissabon. Gemälde von Jacques Philippe Le Bas, 1757.

Als 1710 Leibnizens „Theodizee“ erschien, war die Welt aus europäischer Sicht noch in Ordnung. Die kleine Eiszeit war überstanden, der Dreißigjährige Krieg schon lange vorbei, die großen Nationen Europas hatten begonnen, den Rest der Welt unter sich aufzuteilen und profitierten schamlos von der Ausbeutung ganzer Völker. Die gigantischen ethischen Probleme, die wir heute in diesem Kontext erblicken (etwa die Sklaverei), wurden im Elfenbeinturm gelöst. Die Wissenschaft begann sich zu entwickeln, Bildung wurde zum allgemeinen Gut, der Fortschritt schien unausweichlich. Die Theodizee war die für diese Stimmung passende Welterklärungstheorie und blieb es 45 Jahre lang – bis zum Erdbeben von Lissabon.

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Nichts hatte die europäische Kultur bis dato so nachhaltig erschüttert wie diese Katastrophe. Sie hat die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes angesichts des Übels in der Welt neu aufgeworfen, weil das Leid der Menschen den bisherigen Antworten – allen voran der Lösung Leibnizens – spottete. Vergleichbare Wirkung auf das Nachdenken über Gut und Böse in der europäischen Geistesgeschichte hatte nur noch die Shoa. Auch, wenn es sich bei jener Manifestation des Übels um ein malum physicum und bei dieser um ein malum morale handelt, verglich etwa Adorno die Ereignisse hinsichtlich ihrer kulturhistorischen Konsequenzen miteinander.

Verwüstet bis zum Grunde

Was war passiert? Ein Erdbeben mit folgender Flutwelle zerstörte am Vormittag des 1. November 1755 die portugiesische Hauptstadt Lissabon, damals die viertgrößte Metropole Europas, fast vollständig. Nach heutigen Schätzungen hatte das Beben eine Stärke von etwa neun auf der nach oben offenen Richter-Skala. Mit bis zu 100.000 Todesopfern gehört es zu den zerstörerischsten Naturkatastrophen der europäischen Geschichte. Zeitzeuge Johann Christoph Gottsched fasste den Sachverhalt zusammen: „Das prächtige Lissabon / hieß lange schön und groß; / Doch eine halbe Viertelstunde / Verwüstet solches bis zum Grunde“.

Das zerstörerische Erdbeben mit seinen vielen Opfern war allein schon ein Grund, wieder die Theodizeefrage zu stellen. Es kommt aber noch schlimmer, denn: ausgerechnet die Hauptstadt eines katholischen Landes war betroffen, eines Landes, das sich für die Verbreitung des Christentums in der ganzen Welt eingesetzt hatte. Damit nicht genug: Unfassbar schien, dass die alten Kirchen der Stadt fast gänzlich zusammengebrochen waren, während das Hurenviertel Lissabons, die Alfama, weitgehend unversehrt blieb. Diejenigen also, die an Allerheiligen zum Gottesdienst gegangen waren (die Erde bebte gegen 9:40 Uhr), wurden unter den Trümmern der Kirchen begraben, während diejenigen, die sich in der Alfama aufhielten, unverletzt davonkamen.

Ein Anlass für protestantische Polemik

Angesichts solch bizarrer Umstände war die Erklärungsnot groß. Was für ein Gott soll das sein, der die Guten bestraft und die Bösen verschont? Dass Gott ein solches Missverhältnis duldet, das so himmelschreiend ungerecht ist, konnte man nicht verstehen. Die Theologen waren gefragt. Eine Deutung im theologischen Sinne bestand in der Kontinuierung der Theodizee-Tradition: Das Erdbeben sei zwar „entsetzlich und unerhört“, kann aber immer noch „zur Erweckung einer wahren Furcht Gottes und christlichen Mitleidens“ dienen, wie es in einer pastoralen Reaktion hieß. Damit sollte es exakt jenen Besserungseffekt hervorrufen, der in der leibniz-wolffschen Vorstellung einer moralischen Erziehungswirkung von Katastrophen aufscheint. Daran knüpft auch Gottsched an, der mit erhobenem Zeigefinger schrieb: „Nicht Lissabon allein hegt Sünder: / Wen dieser Fall nicht lehrt, dem droht sein Grimm nicht minder“.

Neben dem Versuch einer Harmonisierung von Gottesglauben und Welterfahrung waren die theologischen Wortmeldungen oft von konfessioneller Polemik getragen. Aus dem tradierten religiösen Deutungsmuster wurde mithin ein Interpretations- und Erklärungsansatz gewonnen, der mit einer kaum noch ungetrübt möglichen positiven Sicht auf die Katastrophe im Rahmen der guten göttlichen Schöpfungsordnung nicht nur vereinbar war, sondern diese Sicht noch schärfte, weil seine Verfechter in der unterstellten konfessionellen Parteinahme Gottes geradezu den Sinn und Zweck des Bebens abzulesen glaubten. Das Datum der Katastrophe lud geradewegs dazu ein, von protestantischer Seite gegen den katholischen Feiertag Allerheiligen und seinen theologischen Hintergrund zu polemisieren. Zudem wurden an Allerheiligen die Inquisitionsurteile vollstreckt. Die pietistischen Theologen geißelten auch die angebliche Dekadenz in der portugiesischen Metropole.

Eine Metropole wie Königsberg

Den Philosophen der Aufklärung wiederum fiel es schwer, am Optimismus des Zeitalters festzuhalten, an der Überzeugung, dass am Ende die vernünftige Ordnung der Dinge alles zum Rechten fügen werde. Unter diesen Umständen hagelte es Spott und Hohn für Leibnizens „Theodizee“, die Mitte des 18. Jahrhunderts zu den Bestsellern der europäischen Literatur zählte. In die skeptische Grundstimmung hinein schrieb Voltaire mit seiner Satire „Candide ou l’optimisme“ vier Jahre nach der Katastrophe eine Art „Anti-Theodizee“. Zuvor hatte er bereits im „Poème sur le désastre de Lisbonne“ seinen Zweifel an Leibnizens Entwurf formuliert. Theodor Adorno meinte, „das Erdbeben von Lissabon reichte hin, Voltaire von der Leibniz’schen Theodizee zu heilen“. Gegen Voltaires Polemik lässt sich allerdings mit Hans Poser einwenden, dass Leibnizens Optimismus nicht ein so naiver gewesen sei, wie er im „Candide“ persifliert wird.

Immanuel Kant, zum Zeitpunkt des Erdbebens von Lissabon gerade 31 Jahr alt, wählt einen anderen Ansatz. Keine Verteidigung seines preußischen Kollegen Leibniz, auch keine Distanzierung von dessen Ansatz einer Theodizee, von der er am Ende seines Lebens sagen wird, sie übersteige unsere Vernunft („Über das Mißlingen aller philosophischen Versuche in der Theodizee“, 1791), sondern die Evaluation des Phänomens selbst. Er setzt sich intensiv mit dem Erdbeben auseinander. Das mag überraschen, hat Kant doch eher auf anderen Gebieten Spuren hinterlassen, doch das Motiv liegt in seiner Heimatstadt begründet, die er zeitlebens nie wirklich verließ: Königsberg.

Königsberg und Lissabon waren im 18. Jahrhundert zwei europäische Metropolen und als Hafenstädte von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Das Erdbeben von Lissabon wurde in ganz Europa diskutiert, es war schließlich das Katastrophenereignis des 18. Jahrhunderts, doch die Identifikation war in Königsberg besonders groß – als bedeutende Hafenstädte waren sie nicht nur wirtschaftlich eng verbunden.

Kant als Geowissenschaftler

So nahm Kant das malum physicum des Erdbebens von Lissabon zum Anlass, seine Naturphilosophie um frühe Formen geophysikalischer Forschung zu erweitern, um die natürlichen Ursachen des Übels zu ergründen. 1756 – also unmittelbar nach der Katastrophe – veröffentlichte er drei Schriften zur Entstehung von Erdbeben. Seine Erklärung ist zwar größtenteils falsch – Kant ging von unterirdischen Höhlen aus, in denen Feuer lodere, so dass bei Wassereintritt Gase und Dämpfe entstünden, die dann zu Explosionen führten, die sich als Erdbeben bemerkbar machten –, aber sie löste mit ihrer naturwissenschaftlichen Begründungsstruktur, die sich auf Experimente und Modelle stützte, den Aberglauben an den „Grimm Gottes“ (Gottsched) als Ursache für Naturkatastrophen ab und zeigte, dass diese erforschbar und damit rational erklärbar sind. Insoweit gab Kants Rezeption des Erdbebens von Lissabon den Anstoß für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit derlei Naturphänomenen, sie markiert nicht weniger als die Geburtsstunde der preußischen Geowissenschaften. Forschung statt Kollektivbuße – das ist Kants Angebot einer neuen Form des Umgangs mit dem Übel der Katastrophe.

Und in der Sache ist auch nicht alles Unsinn, was Kant zum Erdbeben schrieb. So sieht er die Quelle der Erschütterung im Meer. Heute wird das Epizentrum 160 km südwestlich von Lissabon vermutet. Das ergibt sich aus Computermodellen, mit denen der Verlauf des Erdbebens aufgrund von Augenzeugenberichten rekonstruiert wurde. Die Berechnungen weisen darauf hin, dass der Tsunami entstanden ist, weil sich der Meeresboden an einer Stelle um elf Meter gehoben und an einer anderen um sechs Meter gesenkt hat.

Das alles wusste Kant nicht, und er spricht auch nicht von Epizentrum und Plattentektonik, sondern von einer „Explosion“ im Meeresboden und sich konzentrisch ausbreitenden Druckwellen. Alexander von Humboldt bestätigt in der Abhandlung „Über den Bau und die Wirkungsart der Vulkane in den verschiedenen Erdstrichen“ (1823) Kants Bemerkungen von der „inneren Verbindung der Feuerschlünde“ in den Tiefen der Erde, auch wenn diese mit Erdbeben nichts zu tun haben.

Entscheidend ist: In seiner Perspektive bereitet Kant einem neuen Paradigma beim deutenden Umgang mit Katastrophen den Boden: der Naturforschung, die mit neuen Beziehungsdimensionen (Mensch-Technik und Mensch-Natur) an die Stelle des bisher vorherrschen Deutungsmusters tritt, das die Erklärung für das Geschehen im Verhältnis Mensch-Gott suchte. Die Launen der Natur treten an die Stelle der Sünden des Menschen.

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