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Kanon und Diskurs im Mannheimer Schloss

Ist es überhaupt noch möglich, sich auf wissenschaftliche Standards, auf die Bildung eines „Kanons“ zu verständigen? Diese Frage beschäftigte die Generalversammlung Görres-Gesellschaft.
Görres Gesellschaft Heinz Bude
Foto: Görres Gesellschaft | Der Kasseler Soziologe Heinz Bude beim Festvortrag. Bude warf in seinem Vortrag die Frage auf, welche Rolle Europa angesichts des Hegemoniekonflikts zwischen den USA und China spielen könnte.

In Zeiten einer sich immer stärker polarisierenden Gesellschaft kommt einem ausgewogenen Diskurs eine besondere Rolle zu. Es geht dabei um die Frage, wie innerhalb einer Gesellschaft über etwas gesprochen und gedacht wird, denn der Diskurs bildet den Rahmen für verständliche Aussagen. Diskursräume wiederum sind dementsprechend die Bereiche, in denen Ideen, Meinungen und Argumente ausgetauscht werden und sich gesellschaftliche Normen und Werte formen oder verändern. Sie bieten strukturierte Kontexte, um über gesellschaftliche Herausforderungen zu diskutieren, wobei sie sowohl das Sagbare als auch das Nicht-Sagbare innerhalb eines bestimmten Rahmens beeinflussen. Mit diesem großen Thema hat sich die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft auf ihrer 127. Generalversammlung auseinandergesetzt.

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Rund 300 Wissenschaftler aus 20 verschiedenen Disziplinen haben in 15 Fachbereichssitzungen an der Universität Mannheim zur aktuellen gesellschaftlichen Debatte um die Verengung von Diskursräumen und zur Frage diskutiert, ob es überhaupt (noch) möglich ist, sich auf wissenschaftliche Standards wie die Bildung eines „Kanons“ zu verständigen. Die Görres-Gesellschaft ist mit rund 3.000 Mitgliedern eine der größten und zugleich eine der ältesten deutschen Wissenschaftsgesellschaften. Vor dem Hintergrund eines christlichen Menschenbildes nehmen Wissenschaftler auf den Generalversammlungen regelmäßig Stellung zu aktuellen Forschungsergebnissen der Schnittstelle von Wissenschaft, Gesellschaft, Politik und Religion.

Unübersichtlichkeit der Disziplinen

Den Auftakt der 127. Generalversammlung bildete – nach der Eröffnung durch den Präsidenten der Görres-Gesellschaft, Bernd Engler, den Rektor der Universität Mannheim, Thomas Fetzer, und den Mannheimer Oberbürgermeister Christian Specht – der Vortrag des Mannheimer Historikers Hiram Kümper zur Geschichte des Mannheimer Schlosses. Bernd Engler sagte bereits im Vorfeld der Tagung: „Mit dem Thema ‚Kanon und Diskurs’ adressiert die Görres-Gesellschaft ein Thema, das zunächst im binnenwissenschaftlichen Diskurs von großer Relevanz ist, letztlich aber wissenschaftsgeschichtlich eine bedeutende Rolle spielt, da Wissenschaft immer auch von der wechselnden Kanonisierung bestimmter Theorien und als jeweils gültiger ‚Standard’ definierter Werke oder Personen bestimmt ist. Gibt es aber angesichts einer zunehmenden Unübersichtlichkeit wissenschaftlicher Disziplinen überhaupt noch Standardwerke oder bedeutende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, auf die sich die Disziplinen als maßgeblich für ihr Fach einigen können? Was bedeutet es für die Wissenschaft, wenn eine Kanonbildung ausbleibt oder unmöglich gemacht wird? Gefährdet dies nicht letztlich die Diskursfähigkeit von Wissenschaft, wenn sie ihre eigenen Grundlagen gar grundsätzlich in Frage stellt? Im Hinblick auf die gesellschaftliche Relevanz von Wissenschaft stellt sich damit aber auch eine viel weitergehende Frage: Was bedeutet es für gesellschaftliche Debatten, wenn ihre Diskursräume immer weiter verengt werden? Geht damit nicht wissenschaftliche – und in Konsequenz gesellschaftliche – Orientierung verloren?“

Neben dem Festakt und den zentralen Vorträgen standen bei der Jahrestagung die Sitzungen der einzelnen wissenschaftlichen Sektionen der Görres-Gesellschaft mit über 70 Vorträgen im Vordergrund. Die Vorträge bildeten die gesamte Palette der wissenschaftlichen Vielfalt der Görres-Gesellschaft ab und widmeten sich in zahlreichen Einzelveranstaltungen vornehmlich dem Thema „Kanon und Diskurs“.

Große Palette wissenschaftlicher Vielfalt

Einige Beispiele aus dem Tagungsprogramm illustrieren, wie das Thema aufgegriffen wurde: Die philosophische Sektion befasste sich mit der Frage, „wie die Philosophie exklusiv „europäisch“ wurde“. In der Pädagogik wurde unter dem Titel „Rauschen im Blätterwald?“ nach den Bildungskanon-Debatten in Geschichte und Gegenwart gefragt. Die Geschichtswissenschaften warfen einen kritischen Blick auf die Agenda der „kanonischen Themen des Postkolonialismus“. Spannend war auch die Sektionsveranstaltung der Altertumswissenschaften, in der zum Beispiel über „Büchervernichtung, Kanon und Diskurs als spätantike Formen der Zensur“ diskutiert wurde, während die Neuphilologen ihre Sitzung unter das Thema „Kanon MACHT Diskurs“ stellten. Die Religionswissenschaften schließlich untersuchten unter anderem „Kanonbildung“ in den Weltreligionen, und in der Kunstgeschichte wurde die Kanonisierung an Beispielen aus dem Mannheimer Schloss untersucht. Darüber hinaus hat sich die rechts- und staatswissenschaftliche Sektion mit der „Verfassungsordnung im Verteidigungsfall“ beschäftigt, die Politikwissenschaft zusammen mit den Wirtschaftswissenschaften mit den Herausforderungen für die Demokratie.

Die Bedeutung der Görres-Gesellschaft für den wissenschaftlichen Diskurs zeigt sich auch immer wieder anhand der Prominenz der Redner. So sprach die renommierte Tübinger Theologin Johanna Rahner über die Kanonbildung anlässlich des Konzils von Nizäa, das vor 1700 Jahren stattfand, der Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz, Matthias Kopp, stellte seine Dissertation unter dem Titel „Iraks christliches Erbe. Vom Überleben im Zweistromland“ vor und der Bonner Religionswissenschaftler Klaus von Stosch hielt einen Vortrag über „Kanonbildung im Dialog der Religionen“.

Der Kontinent des Individuums

Einen Höhepunkt bildete der Vortrag von Achim Wambach, Präsident des Leibniz Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, zum Thema „Zwischen Neutralität und Wirkung. Wissenschaftstransfer in die Politik“. Abgeschlossen wurde die Tagung mit dem Festakt unter anderem mit einem Vortrag des renommierten Kasseler Soziologen Heinz Bude zum Thema „Kanon und Diskurs in der multipolaren Welt“. Bude warf in seinem Vortrag die Frage auf, welche Rolle Europa angesichts des Hegemoniekonflikts zwischen den USA und China spielen könnte. Seine Antwort lautete, dass im Herkommen Europas dem Rätsel des Individuums ein Sinn gegeben werde. Darauf gründe der Kanon dieses imaginären Kontinents und das halte seine Diskurse in Bewegung.

Apropos Erfahrung von Räumen: Die Görres-Gesellschaft beschränkte sich nicht aufs Barockschloss Mannheim als ehemalige Residenz der pfälzischen Kurfürsten. Ein weiterer Höhepunkt der Veranstaltung war die Führung durch die Jesuitenkirche durch Theo Schwarzmüller, früherer Leiter des Instituts für pfälzische Geschichte und Volkskunde, unter dem Titel „Jesuitenkirche. Führung auf den Spuren von Alfred Delp und Helmut Kohl“.

2026: Doppeltes Jubiläum für Görres-Gesellschaft

Im kommenden Jahr steht für die Görres-Gesellschaft ein doppeltes Jubiläum an. Der Namensgeber der Gesellschaft Joseph Görres, bekannter Publizist, außerordentlicher Wissenschaftler, Vorkämpfer staatsbürgerlicher und kirchlicher Freiheitsrechte und Begründer des politischen Katholizismus in Deutschland, feiert am 25. Januar seinen 250. Geburtstag, die Gesellschaft am gleichen Tag ihren 150. Geburtstag – schließlich wurde sie aus Anlass von Görres’ 100. Geburtstag in Koblenz gegründet. Die Görres-Gesellschaft versteht sich als eine Plattform, die die aktuellen wissenschaftlichen Debatten in ihrer gesellschaftlichen Vielfalt aufgreift und sich im Spannungsfeld von säkularer Welt, wissenschaftlichem Fortschritt und christlicher Tradition aktiv und profiliert daran beteiligt.

Dabei ist für die Görres-Gesellschaft die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses eine Kernaufgabe. Dazu gehören die Möglichkeit der Unterstützung durch Forscherpersönlichkeiten, die Gelegenheit zu interdisziplinärer Zusammenarbeit, die Teilnahme an wissenschaftlichen Veranstaltungen, die historische und aktuelle Probleme aufgreifen, sowie die Mitwirkung an Görres-Publikationen. Zur Vernetzung des wissenschaftlichen Nachwuchses wurde 2018 das „Junge Forum der Görres-Gesellschaft“ gegründet, dem mittlerweile mehr als 300 Personen angehören. Mit den Erträgen der 2024 gegründeten Stiftung zur Förderung der Görres-Gesellschaft sollen insbesondere junge Wissenschaftler sowie die Publikationen der Gesellschaft gefördert werden.

Der Autor ist Germanist und Prorektor der Allensbach Hochschule (Konstanz). Er ist als Publizist und Berater tätig.

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