Die Atmosphäre ist still und getragen, das Licht wohl dosiert. Nun richten sich alle Augen auf ihn, den größten Schatz der Kathedrale von Valencia: den „Heiligen Kelch“, auf Spanisch als „Santo Cáliz“ bekannt. Ihm ist eine eigene Kapelle geweiht. Streng gesichert hinter Glas, setzt ihn die gesonderte Beleuchtung wirkungsvoll in Szene. Zu Ehren des Kelches beginnt am 30. Oktober ein Jubiläumsjahr, mittlerweile das dritte in der noch jungen Geschichte der Heilig-Jahr-Feiern in Valencia.
2015 billigte Papst Franziskus der spanischen Mittelmeerstadt das Privileg zu, alle fünf Jahre ein Heiliges Jahr zu begehen. Damit katapultiert sich Valencia, das im Vorjahr als „Grüne Hauptstadt Europas“ von sich reden machte, aufs Neue ins Bewusstsein und steht in der erlesenen Reihe anderer heiliger Städte der Christenheit, wie Rom, Jerusalem und Santiago de Compostela. Die Kathedrale wird all jene Pilger willkommen heißen, die den vollkommenen Ablass erhalten möchten.
Kelch des Letzten Abendmahs?
Bekannt ist der legendäre Kelch auch als „Heiliger Gral“, also jenes Trinkgefäß, das Jesus Christus der biblischen Überlieferung zufolge beim Letzten Abendmahl gebrauchte. Kann das sein? Wie glaubwürdig erscheint das? Dazu bedarf es der zeitlichen Einordnung und detaillierten Betrachtung. Das kunstvolle Werk besteht aus drei verschiedenen Teilen: dem Fuß, dem Mittelteil und oben dem Allerwichtigsten, einem polierten Achatkelch.
Lokale Publikationen verweisen auf die Studien des Forschers Antonio Beltrán, der das Gefäß auf die Zeit zwischen dem vierten vorchristlichen und dem ersten nachchristlichen Jahrhundert datiert hat. Es könnte in einer Werkstatt in Ägypten, Syrien oder Palästina angefertigt worden sein. Laut Quellenlage soll es sich bei dem Fuß um eine umgedrehte ägyptische oder arabische Schale aus dem 10. oder 11. Jahrhundert handeln, die hinzugefügt wurde, um die Bedeutung des Stückes zu untermauern. Die Perlen und Edelsteine, die die Schale schmücken, stammen aus noch späterer Zeit.
Über Jerusalem und Rom nach Valencia
Die Fragen, die sich anschließen, lauten: Wie kam der Kelch nach Valencia? Wieso war gerade dort sein Bestimmungsort? Lässt sich der Stoff der Überlieferungen überhaupt entwirren? Annähernd 2 000 Jahre Geschichte machen die Überprüfung von Fakten unmöglich. Letztlich läuft alles auf eine Sache des Glaubens hinaus.
Den Quellen der Stadt Valencia zufolge spielte sich Folgendes ab: „Der Kelch, den Jesus Christus beim Letzten Abendmahl benutzte, wurde vom heiligen Petrus von Jerusalem nach Rom gebracht und seitdem von ihm und den aufeinanderfolgenden Päpsten der Kirche in Rom bei den Eucharistiefeiern verwendet, bis Papst Sixtus II. im Jahr 258 seinen Diakon St. Lorenz beauftragte, den Kelch aus Rom herauszuschaffen, um ihn vor der Verfolgung durch Kaiser Valerian zu schützen.“
Perlen und Edelsteine hinzugefügt
St. Lorenz, das war Laurentius von Rom, der aus dem spanischen Huesca gestammt haben soll. Er brachte, so heißt es, den Kelch nach Huesca, wo seine Eltern lebten. Doch ab dann klafft in der Chronologie eine erhebliche Lücke, wenn es heißt: „Der Kelch wurde schließlich im Kloster San Juan de la Peña versteckt.“ Dieses Bergkloster, das in der Nähe der Pyrenäen in derselben Region Aragonien liegt wie die Stadt Huesca, ist allerdings erst ab dem 10. Jahrhundert dokumentiert. In San Juan de la Peña soll der Schmuck aus Perlen und Edelsteinen hinzugefügt worden sein.
Über die verworrenen Wege des Kelches heißt es weiter: „1399 wurde er von den Mönchen des Klosters König Martin I. von Aragonien geschenkt, von dem drei Briefe erhalten sind, in denen die Reliquie nachdrücklich beansprucht wird. Einmal in seinen Händen, brachte Martin I. den Gral in die Kapelle seiner Residenz in Saragossa, den Palacio de la Alfajería. Und ein anderer König, Alfons der Großmütige, brachte den Heiligen Kelch 1424 in den Königspalast von Valencia, seine damalige Residenz.“
Goldene Epoche
Valencia war seinerzeit eine fortschrittliche und prosperierende Stadt, wirtschaftlich, kulturell, architektonisch. Es war eine goldene Epoche. Alfons der Großmütige, so liest man weiter, führte teure Feldzüge durch, für die er Kredite benötigte. Dabei wandte er sich an den Klerus. Den Heiligen Kelch musste er letztendlich 1437 der Kirche zur Tilgung seiner Schulden übergeben. Fortan zählte der Kelch zum Schatz der Kathedrale und konnte sich über die Zeiten retten.
Er überstand 1744 am Karfreitag einen unseligen Sturz und den Unabhängigkeitskrieg zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegen die napoleonischen Truppen, als er vorübergehend von Valencia nach Alicante, Ibiza und Palma de Mallorca zog. Ab 1916 wurde der Kelch in seiner eigenen Kapelle ausgestellt und während des Spanischen Bürgerkriegs 1936–39 vor der Schändung der Kathedrale gerettet: Eine Familie versteckte ihn zunächst in der Stadt Valencia und dann im Ort Carlet versteckt.
Zweimal im Jahr verlässt der Heilige Kelch seine altangestammte Kapelle, um bei einer Prozession zum Hochaltar der Kathedrale getragen zu werden: an Gründonnerstag und am letzten Donnerstag im Oktober.
Johannes Paul II. und Benedikt verwendeten ihn
Die Kapelle selber ist gotischen Ursprungs, überzogen von einem Gewölbe in Form eines Sterns. In den polychromierten Schlusssteinen erkennt man die zwölf Apostel und in der Mitte die Krönung Mariens im Himmel. Der verglaste Schrein mit dem Kelch ist hinter einem Altar und noch hinter die Tür in den filigran gearbeiteten Chor platziert. Auf einfachen Holzbänken kann man das Ganze auf sich wirken lassen. Höchste Ehren wurden dem Kelch zuteil, als ihn die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. bei ihren Messen in Valencia benutzten.
In der Kathedrale, überragt vom Glockenturm namens Miguelete, wirbeln Jahrhunderte und Stile von Gotik bis Neoklassizismus durcheinander. Der Miguelete ist das äußere Wahrzeichen des Bauwerks und beherrscht die umliegende Altstadt. Lohn der Aufstiegsmühen über mehr als 200 Wendeltreppenstufen ist die Aussicht aus einer Höhe von 51 Metern. Auch für den Museumsbereich mit wertvollen Gemälden, Skulpturen und Chorbüchern sollte man etwas Zeit einplanen; beim „Letzten Abendmahl“ des Renaissance-Malers Vicente Juan Masip alias Juan de Juanes (um 1500–1579) steht vor Christus ein Gefäß auf der Tafel, das dem Heiligen Kelch in seiner Ehrenkapelle sehr stark ähnelt.
Besonderheiten und Kuriositäten
Darüber hinaus überrascht die Kathedrale mit weiteren Besonderheiten und Kuriosa. Schaurig anzusehen ist eine Armreliquie mit unglaublich langen Fingern des heiligen Vinzenz, der im Jahre 304 in Valencia sein Martyrium erlitt. Frauen im letzten Schwangerschaftsmonat zieht es zur „Virgen del Coro“, einem spätgotischen Marienbildnis im Altarumgang. Die Tradition besagt, dass die Frauen von hier aus im Gedenken an die neunmonatige Schwangerschaft der Gottesmutter neun Runden durch das Innere der Kathedrale drehen – auf dass die Geburt gut gelingen und das Kind gesund zur Welt kommen möge.
Ungewöhnlich ist auch das Wassergericht, das seit dem Mittelalter draußen vor dem Apostelportal jeden Donnerstag um zwölf Uhr mittags tagt. Mündlich klären acht ehrenhaft gekleidete Männer Streitfragen rund um die Wasserrechte. Ihre Urteile sind unanfechtbar. Das Wassergericht zählt zum Immateriellen Weltkulturerbe der Unesco.
Der Gral von Valencia wird seine Geschichte fortschreiben. Nach dem Ende des Jubiläumsjahres im Oktober 2026 steht 2027 im sogenannten Haus des Uhrmachers die Eröffnung des Interpretationszentrums zum Heiligen Kelch in Planung. 2027 bricht auch in Santiago de Compostela erneut ein Heiliges Jahr an. Mögen die Zahlen der praktizierenden Katholiken zurückgehen – es geht Schlag auf Schlag in Spanien.
Der Verfasser ist freier Autor und Journalist und lebt in Spanien.
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