Am 7. Oktober verhandelte der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten von Amerika im Fall „Chiles v. Salazar“ erstmals die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen, die sogenannte Konversionstherapien bei Minderjährigen verbieten. Das Urteil könnte weitreichende Folgen für Berufsrecht, Religionsfreiheit und staatliche Schutzpflichten gegenüber Minderjährigen haben.
Kaley Chiles, eine christliche Psychotherapeutin aus Colorado, behandelt Sucht, Trauma und Fragen von Sexualität und Geschlechtsidentität. Viele ihrer Klienten seien religiös geprägt; sie wolle Beratungen anbieten, die „unerwünschte Anziehung verringern“ oder „die Geschlechtsidentität in Einklang mit dem biologischen Geschlecht bringen“. Seit 2019 verbietet jedoch das Gesetz HB19-1129 in Colorado allen lizenzierten Therapeuten Konversionsinterventionen bei Minderjährigen. Aus Angst vor Sanktionen vermeidet Chiles seither jedes Gespräch, das als Versuch zur Veränderung von Orientierung oder Identität verstanden werden könnte.
Chiles sieht darin eine Verletzung ihrer Rede- und Religionsfreiheit. Deshalb klagte sie gegen das Gesetz vor dem zuständigen Bezirksgericht. Das Bezirks- und das Berufungsgericht wiesen jedoch ihre Klage ab: Das Gesetz diene legitimen Interessen – dem Schutz Minderjähriger vor „nachweislich schädlichen und unwirksamen Praktiken“. Konversionstherapie habe, so die Begründung, „keinen klinischen Nutzen“ und berge erhebliche Risiken. Chiles legte gegen die Urteile Berufung beim Supreme Court ein: Das Gesetz beschneide ihre Redeinhalte – damit berühre es den Kernbereich des Ersten Zusatzartikels der US-Verfassung, der das Recht auf Religions-, Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit garantiert.
In den USA ist die Rechtslage bislang uneinheitlich. Staaten wie Kalifornien, New York, Illinois oder Washington untersagen Konversionsinterventionen bei Minderjährigen, meist mit Ausnahme religiöser Seelsorge. Andere – etwa Virginia oder North Carolina – erlauben begleitende Gespräche, solange keine explizite Veränderungsabsicht besteht. Wieder andere, vor allem im Süden und Mittleren Westen – unter anderem Alabama, Florida, Georgia und Indiana –, haben keine Verbote erlassen und sehen solche Therapien als Ausdruck professioneller Autonomie.
Der Generalstaatsanwalt stellte sich auf Chiles‘ Seite
Juristisch bedeutsam ist die Spaltung der Berufungsgerichte. Der 11. Bezirk (Florida, Georgia, Alabama) erklärte 2020 in „Otto v. City of Boca Raton“ kommunale Verbote für verfassungswidrig, da Gesprächstherapie Kommunikation sei und somit durch den Ersten Zusatzartikel geschützt seien. Dagegen bestätigten der 9. (Kalifornien) und 3. Bezirk (New Jersey) bereits 2014 entsprechende Landesverbote. Laut dem Juristen Jordan Hutt von Fordham Law wirft dies „grundlegende Fragen zur Prüfungsintensität“ auf – Chiles v. Salazar könnte hier Präzedenzwirkung entfalten.
Chiles’ Anwalt James Campbell sprach vor dem Supreme Court von einem „schweren Eingriff in die Meinungsfreiheit“. Das Gesetz bringe „Therapeuten zum Schweigen“ und lasse „Minderjährige und Familien ohne Hilfe“. Wenn der Staat festlege, welche Sichtweisen in Beratungen erlaubt sind, könnten Therapeuten „zu Sprachrohren der Regierung“ werden. Die Gegenseite, vertreten durch Colorados Generalstaatsanwältin Shannon Stevenson, verwies auf Studien, die Konversionstherapie mit Depression, Angst und erhöhter Suizidgefahr in Verbindung bringen. Fachverbände wie die „American Medical Association“ und die „American Psychological Association“ unterstützen das Verbot als ethisch geboten.
Der stellvertretende Generalstaatsanwalt Hashim Mooppan, der die Trump-Regierung vertrat, stellte sich hingegen auf Chiles‘ Seite: Gesprächstherapie sei „ausschließlich Sprache“, und deren Einschränkung verletze direkt die Rede- und Glaubensfreiheit.
Freie Rede oder regulierbare Behandlung?
Laut dem juristischen „SCOTUSblog“ zeigten sich mehrere Richter „wohlwollend gegenüber Kaley Chiles“. Die liberale Richterin Elena Kagan fragte, warum ein Therapeut Jugendlichen helfen dürfe, ihre Homosexualität zu akzeptieren, ein anderer aber nicht, sie zu ändern: „Das scheint eine Diskriminierung aufgrund der Weltanschauung zu sein.“ Samuel Alito sprach von „offenkundiger Diskriminierung von Meinungen“, während Ketanji Brown Jackson und Sonia Sotomayor die Notwendigkeit staatlicher Regulierung im Gesundheitswesen und die besondere Schutzpflicht des Staates für Minderjährige betonten.
Entscheidend wird sein, ob therapeutische Gespräche als Rede oder als regulierbare medizinische Behandlung betrachtet werden. Laut „SCOTUSblog“ blieb offen, ob der Supreme Court selbst entscheiden oder den Fall an die Vorinstanzen zurückverweisen wird, um eine genauere Prüfung vorzunehmen.
Unabhängig von der mit Spannung erwarteten juristischen Entscheidung weisen Praktiker auf Grauzonen hin. Der Psychologe David Kirby (Minnesota) warnt, Verbote erschwerten „maßgeschneiderte Hilfsangebote“, insbesondere wenn Jugendliche selbst nach Veränderung suchten. Aus Furcht vor einem Lizenzverlust könnten Therapeuten zugrunde liegende Traumata oder Angststörungen übersehen. Auch der Psychiater Kurt Miceli von „Do No Harm“ plädiert vor den „Centers for Disease Control and Prevention“ für neue Diagnosecodes für Menschen, die nach medizinischer Transition wieder zum biologischen Geschlecht zurückkehren wollen: „Wer nicht kodiert wird, existiert für das Gesundheitssystem nicht – und bekommt keine angemessene Versorgung.“
2023 hatte der Supreme Court ein Verbot bestätigt
Ryan T. Anderson vom „Ethics and Public Policy Center“ und Tyler Deaton vom „American Unity Fund“ argumentieren in einem „Amicus-Schriftsatz“ zur Unterstützung der Antragstellerin in der Rechtssache Chiles v. Salazar, das Gesetz „schütze Kinder nicht, sondern führe sie auf ein medizinisches Förderband“, das in irreversible Eingriffe münden könne: „Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen, Unfruchtbarkeit, verminderte Knochendichte und andere lebenslange gesundheitliche Folgen“. Therapeuten dürften nur „den Wunsch eines Kindes nach einer Geschlechtsumwandlung bestätigen“, aber nicht erkunden, ob psychische oder familiäre Belastungen hinter den Identitätskonflikten stehen. Gerade dadurch würden Jugendliche, die nach Orientierung suchen, allein gelassen. Viele betroffene Therapeuten gehörten selbst zur LGBT-Gemeinschaft und wollten jungen Menschen helfen, „zu gesunden Erwachsenen zu reifen“. Wenn „ihre Praxen unter die Lupe genommen und geschädigt“ würden, führe dies dazu, „dass weniger Kinder Zugang zu Hilfe und Beratung haben, wenn sie diese am dringendsten benötigen.“
Bereits Ende 2023 hatte der Supreme Court einen ähnlichen Fall aus dem Bundesstaat Washington abgewiesen und das dortige Verbot bestätigt. Kritiker wie John Bursch von der „Alliance Defending Freedom“ sprachen von „Zensur therapeutischer Rede“, während Gerichte auf die Schutzpflicht gegenüber Minderjährigen verwiesen. Chiles v. Salazar könnte nun erstmals definieren, wo die Grenze zwischen Rede und Behandlung verläuft – und wie Beweise zu Nutzen oder Schaden solcher Gespräche zu gewichten sind.
Die Begriffe selbst sind umstritten
Im Kern steht ein Dreieck von Kinderschutz, Grundrechten und klinischer Praxis. Minderjährige gelten als besonders schutzbedürftig; Fachgesellschaften sehen in Konversionspraktiken keinen Nutzen, wohl aber erhebliche Risiken. Gleichzeitig sind therapeutische Gespräche Kommunikation – ein Verbot trifft damit Inhalte und tangiert die Redefreiheit, insbesondere wenn Klienten selbst Ziele formulieren. Schließlich verweist die Praxis auf Ambivalenzen: Nicht jedes Anliegen eines Jugendlichen deckt sich mit gesetzlichen Kategorien. Daraus entsteht ein sogenannter „chilling effect“, eine Selbstbeschränkung: Aus Angst vor Sanktionen meiden Fachleute die ergebnisoffene Exploration.
Auch die Begriffe selbst sind umstritten. Was die einen „affirmativ“ nennen, erscheint anderen „präjudizierend“. Was die einen als „explorativ“ verteidigen, deuten andere als „verdeckte Konversion“. Auch die Datenlage ist nicht frei von Konflikten: Während Fachgesellschaften weltweit Konversionspraktiken als unethisch einstufen, berichten einzelne Betroffene positive Erfahrungen mit freiwilligen, klientenzentrierten Beratungen. Zugleich mehren sich Hinweise auf Spätfolgen schneller medizinischer Eingriffe bei Minderjährigen.
Vor diesem Hintergrund könnte Chiles v. Salazar eine Weichenstellung werden – weniger in der Frage, ob Konversionspraktiken zu rechtfertigen sind, als darin, welche Grenzen der Staat bei der Regulierung therapeutischer Rede ziehen darf, welche Spielräume für ergebnisoffene Psychotherapie verbleiben, wie Minderjährigenschutz und Berufsfreiheit auszubalancieren sind, und welche Rolle religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen künftig spielen dürfen.
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