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Technodizee

Für eine Bewertung von Technik jenseits der eindimensionalen ökonomischen Verwertungslogik: Eine Mini-Serie zur Technikphilosophie. Zweiter und letzter Teil.
Löscharbeiten an der Absturzstelle - Absturz einer Concorde am Rande von Paris
Foto: imago stock&people via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Problematische Technik: ein Absturz im Jahr 2000 läutete das Ende des als Technikikone geltenden Überschallflugzeugs "Concorde" ein.

In seinem Aufsatz „Malum technologicum. Die Technodizee als Transformation der Theodizee“ (1999) entwickelt der Philosoph Hans Poser den Gedanken, das Grundübel unserer Zeit bestehe in der Möglichkeit einer Einschränkung menschlicher Freiheit durch die negativen Folgen der Technik. Poser umreißt die Analogie zu Leibnizens Argumentation wie folgt: „In seiner Rechtfertigung Gottes ist für Leibniz das Übel um der Harmonie in der besten aller möglichen Welten willen als unvermeidlich zuzulassen. Als verwandelte Form der Theodizee ergibt sich das Technodizee-Problem, in dem nicht Gott, sondern der Mensch für die üblen Folgen seiner Schöpfung angeklagt wird. Als Mängelwesen mit Vernunft ist der Mensch einerseits auf die Technik angewiesen, andererseits gefährdet er durch die unvermeidlichen zerstörerischen Folgen technischer Schöpfungen sein Überleben und stellt vielleicht sogar das eigene Dasein in Frage. Haben wir für dieses Problem eine Lösung?“

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Die Argumentation läuft bei Leibniz über drei Ebenen: 1. die der Möglichkeit (Gott wählt aus den Möglichkeiten die beste aus), 2. die der Verantwortung Gottes für die erschaffene Welt und 3. die der Wertung, das heißt es muss klar sein, was „gut“ und was „böse“ bedeutet. Diese Ebenen, so Poser, finden sich auch im Technikdiskurs wieder.

Drei Optionen

Zunächst geht es, so Poser, um den „Ermöglichungsgrund einer besseren Welt“. Es gibt drei Varianten des Technikgeneseverständnisses, die jeweils einen anderen modalen Status haben, gleichwohl alle zur Konsistenz menschlicher Weltorientierung gehören, das heißt: Es könnte immer auch anders sein.

Zum einen kann der Ingenieur als derjenige angesehen werden, der an die Stelle des Schöpfergottes tritt, der aus einem Ideenreich die beste Möglichkeit etwa für eine Maschine identifiziert, auswählt und konstruiert, so wie Gott aus den möglichen Welten die beste identifiziert und erschaffen hat. Das setzt freilich eine platonische Denkweise voraus, die Annahme, dass es ein solches „Ideenreich“ gibt. Eine solche Ontologie vertreten heute nur noch wenige Technikphilosophen.

Zum anderen ist es denkbar, dass Technikentwicklung quasi automatisch abläuft, unabhängig vom Menschen. Dieses Nichtsteuerbarkeitspostulat wird von einer technikkritischen Richtung vertreten, häufig in Anbindung an Joseph Weizenbaum, von dem in Teil eins dieser Reihe schon die Rede war.

Die dritte Option geht davon aus, dass Technik von allen Menschen geschaffen wird. Damit liegt die Technikgenese weder in den Händen eines Einzelnen (des „Schöpfer-Ingenieurs“), noch entsteht und entwickelt sich Technik „einfach so“. Vielmehr verlangt die Gesellschaft nach technischen Lösungen, und Menschen aus dieser Gesellschaft befriedigen diese Bedürfnisse zum Wohle aller (oder besser: vieler). Das mögliche Übel, das Technik mit sich bringt, wird hierbei nicht als Hemmnis betrachtet, das die Reduktion technischer Eingriffe nahelegt, sondern als Aufforderung zu mehr – und im Sinne des Fortschrittsoptimismus – besserer Technik. Ein Beispiel dafür wäre die Suche nach „sicheren“ Atomreaktortypen für die Energieerzeugung oder auch die zunehmende Sicherheitstechnik in Autos (vom Airbag bis zum Seitenaufprallschutz).

Sodann muss sich Gott in Leibnizens Theodizee für die von ihm geschaffene Welt angesichts des in ihr spürbaren Übels vor der menschlichen Vernunft verantworten. Dieses Verständnis von Verantwortung übertragen auf die Technodizee führt zu der Formel, dass sich der Mensch vor dem Menschen für die Schaffung und den Gebrauch von Technik verantworten muss. Unterstellt, dass Technik weder die einsame Schöpfung eines Ingenieurs und auch nicht ein sich immer weiter verselbstständigender Prozess ist, sondern gesellschaftlich generiert wird, geht es in der Technodizee also um die Mitverantwortung aller Akteure, also auch der Konsumenten, die eine bestimmte Technik wollen, nicht um die Generalverantwortung eines einzelnen Forschers oder Ingenieurs und auch nicht um die bloße Rezeption einer schicksalhaften Entwicklung, für die niemand Verantwortung trägt.

Folgen und Verantwortung

„Mitverantwortung aller Akteure“ – das macht die Sache schwierig, weil Abgrenzungen kaum vorgenommen werden können. Wer trägt die Verantwortung, wenn ein Flugzeug abstürzt? Der Konstrukteur, der Pilot, der Mehrheitsaktionär, der immer stärkeren Druck ausübt auf die Fluggesellschaft, Kosten zu reduzieren oder gar der Fluggast selbst, der immer billiger und schneller ans Ziel kommen will? Alle – irgendwie. Jeder Einzelne trägt einen Teil der Verantwortung, weil jede und jeder Einzelne an ihrer oder seiner Stelle mit ihren oder seinen spezifischen Ansprüchen das System „Technik“ – hier: das Flugzeug – generiert, auch wenn für Konstruktion und Produktion die allerwenigsten Menschen konkret verantwortlich sind.

Schließlich sei die Frage nach der Bedeutung von „gut“ und „böse“ gestellt. In der Theodizee Leibnizens ist das klar. Es herrscht das Prinzip des Besten, das Gott veranlasst, ein Maximum an Ordnung wirklich werden zu lassen, was ein Maximum an Harmonie und Vollkommenheit in der Welt bedeutet, keine absolute zwar, jedoch eine größtmögliche. Was aber ist das Prinzip des Besten in der Technik? Hier gibt es aufgrund der unterschiedlichen Interessen der am gesellschaftlichen Geneseprozess beteiligten Akteure auch unterschiedliche Gütevorstellungen: Dem Ingenieur geht es um Funktionalität, dem Aktionär um Wirtschaftlichkeit, dem Kunden um Freude bei der Anwendung.

Ferner stellt sich das Problem der Abschätzung von Folgen: Das Prinzip des Besten in der Technodizee ist an den Wissensstand des endlichen, fehlbaren Wesens Mensch gebunden, hat also nicht die unendliche „praevisio“ des allwissenden und allmächtigen Gottes im Rücken, die Leibniz in der Theodizee als Schöpfungskonstitution unterstellt. Darin liegt eine besondere Brisanz, denn es sind ja gerade jene Folgen, mit denen keiner rechnet, die so verheerend sind, weil nichts an Schutzmaßnahmen ergriffen wird, einfach deshalb, weil das Problembewusstsein fehlt. Man denke etwa an die Mineralfaser Asbest oder an den Kühlstoff FCKW, die in den 1960er Jahren in erster Linie als eines wahrgenommen wurden: als preiswert. Und im 19. Jahrhundert hätte kein Mensch daran gedacht, dass die mit fossilen Brennstoffen angetriebene Industrialisierung einen derartigen ökologischen Einschlag haben würde, Stichwörter: Kohlenstoffdioxid, Treibhauseffekt, anthropogener Klimawandel.

Das unerreichbare Ziel

Was bedeutet dies nun für den Technikdiskurs? Die Strukturanalogie von Theodizee und Technodizee legt im Ergebnis nahe, nach bestem Wissen und Gewissen eine Bewertung von Technik jenseits der eindimensionalen ökonomischen Verwertungslogik vorzunehmen, das heißt soziale, gesundheitliche und ökologische Folgen hinreichend zu berücksichtigen. Die Strukturanalogie gebietet ferner, die für die Technikgenese Zuständigen – und das sind wir alle, jede und jeder von uns – stärker in die Verantwortung zu nehmen, ganz im Sinne einer depotenzierenden Theodizee-Deutung im Perspektivwechsel von der Ursachenforschung zur Überwindungsambition, etwa bei Hans Jonas. Das Ziel muss dabei sein, künftiges Technik-Übel, künftige Katastrophen zu verhindern, auch wenn dieses Ziel nie gänzlich erreicht werden kann.

Die Analogie bedeutet aber auch, dass wir sämtliche strukturelle Schwierigkeiten des Theodizee-Topos in den Technikdiskurs mitnehmen, einschließlich einer möglichen Unlösbarkeit der Technodizeefrage aufgrund der Undurchsichtigkeit des wissenschaftlich-technischen Systemzusammenhangs. Wenn die Wege des Herrn unerforschlich sind, wie das der Apostel Paulus schrieb, und die Theodizee für die menschliche Vernunft nicht fassbar ist, wie Kant meinte, dann könnten auch die Wege technologischer Entwicklung und deren Folgen in technischen Systemen unerforschlich sein. Die menschliche Vernunft könnte also ebenso an der Technodizee scheitern.

Hans Poser sah diese Probleme, doch zugleich sah er den Wert der Technodizee darin begründet, dass mit ihr ein gedankliches Instrumentarium zur Verfügung steht, sich der Frage nach der „Gerechtigkeit der Technik“ anzunähern. Von wissenschaftlich-technologischen Lösungen in Gestalt konkreter Techniken dürfte nicht nur gefordert werden, dass sie sich rechnen, sondern auch, dass sie – nach allem, was wir wissen können – dem Menschen und der Umwelt gerecht werden.

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