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Charles Taylor, der Weltdenker der Moderne, feiert seinen 90. Geburtstag

Ein Philosoph von Weltgeltung. Das Denken Charles Taylors bietet den Schlüssel zum Verständnis von Fragen, welche die Welt in Atem halten. Zum 90. Geburtstag eines jung Gebliebenen.
Charles Taylor, Philosoph
Foto: Wikimedia | Charles Taylor

Charles Taylor, der am 5. November seinen 90. Geburtstag begeht, ist seit Jahrzehnten ein Philosoph von unbestrittener weltweiter Geltung. In fast allen großen Debatten und Diskursen meldete er sich profiliert und subtil zu Wort. Er ist gleichermaßen und wie kaum ein anderer in den Traditionslinien der analytischen Philosophien angelsächsischer Prägung und den kontinentalen Grundströmungen von Hermeneutik und Phänomenologie zuhause. Scheinbar weit auseinanderliegende Ansätze verbindet er souverän miteinander, nach dem paulinischen Motto: „Alles prüft, das Gute aber behaltet.“

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Katholischer Denker

Mithin ist Taylor nicht nur der Herkunft nach, sondern durchgehend ein katholischer Denker: Umfassend und differenziert, in die Welt orientiert, doch sich nicht in ihr verlierend, für säkulare und christliche Öffentlichkeit gleichermaßen interessant. Er, der neben vielen internationalen Gast- und Forschungsprofessuren, auch in Deutschland, bis zur Emeritierung an der McGill Universität in Montreal tätig war, erhielt aus guten Gründen neben internationalen Preisen wie dem Hegel-Preis, dem Preis der Templeton-Foundation und dem geisteswissenschaftlichen Nobelpreis, dem Kyoto-Preis, auch den Joseph-Ratzinger-Preis.

Transatlantisch und interdisziplinär ist bereits die Ausrichtung des jungen Charles Taylor. Er beginnt seine Studien in Kanada, wechselt dann aber nach England. Er beginnt als Historiker, widmet sich der Politischen Theorie und bleibt beiden Linien auch in seiner philosophischen Laufbahn verbunden. Taylors wichtigster akademischer Lehrer war Isaiah Berlin in Oxford. Dessen differenziert liberaler Freiheitsbegriff und die ideengeschichtlichen Perspektiven des großen Skeptikers prägten ihn. Doch gewann er dem ganz neue Facetten ab.

Wozu?

Am akademischen Anfang steht die Auseinandersetzung mit dem seinerzeit dominierenden Behaviorismus. Die Dissertation war dem Thema „Erklärung und Interpretation in den Wissenschaften vom Menschen“ gewidmet. Taylor zeigt gegenüber den behavioristischen Dogmata von Reiz und Reaktion, dass eine auf innere Absichten und teleologische Aspekte erweiterte Perspektive für das Verständnis des Menschen unumgänglich ist. Taylor griff deshalb auf kontintentale Muster zurück, unter anderem auf Husserl und Merleau-Ponty. Sein Grundansatz berührt sich mit der von Robert Spaemann wiedergewonnenen „Frage Wozu?“

Taylor trat schon früh mit einer Sammlung seiner Einzelstudien hervor, die bereits in den frühen Jahren zwischen 1971 und 1981 ein eindrucksvoll breites Themenspektrum zeigen: gemäß Taylors Konzept einer Vermessung der moralischen Landkarte spielen schon in seiner frühen Professorenzeit Sprachphilosophie, Politische Philosophie und Sozialtheorie neben Anthropologie und Ethik eine wesentliche Rolle.

Was ist gerecht?

Weltweite Bekanntheit erlangte Taylor im Zusammenhang mit der Kommunitarismus-Debatte. Eine gerechte Gesellschaft ist – darin konvergieren die verschiedenen kommunitaristischen Ansätze – weder im abstrakten, bindungslos atomistischen Subjekt, noch in einem Kollektivismus zu gewinnen, sondern in Gemeinschaftsformen diesseits von Staat und ökonomisierter Gesellschaft als System der Bedürfnisse. Auch und gerade in den Strudeln der Moderne bleibt die Suche nach einer unentfremdeten Identität für den Einzelnen und die Öffentlichkeit wesentlich.

Die bedeutendsten Vertreter des Kommunitarismus, Taylor und der jüdische Philosoph Michael Walzer, standen der Etikettierung sehr unterschiedlicher Ansätze als „communitarian“ indes sehr kritisch gegenüber. Dennoch gehören Taylors Arbeiten in den philosophisch anspruchsvollen Kern der Kommunitarismus-Diskussion. In „Negative Freiheit“ zeigt er, dass kantisch inspirierte Universalismen nicht ausreichend sind, um eine tatsächlich freie Gesellschaft zu fundieren. Menschliches Handeln und Leben muss vielmehr in Kontexten und in Bindung an höchste und letzte Güter verstanden werden. Mit einem anderen Buchtitel Taylors gesprochen besteht das „Unbehagen der Moderne“ darin, dass die abstrakte Selbstverwirklichung zu moralischer Indifferenz führt. Ein atomistischer Individualismus ist indes keineswegs harmlos oder gar unschuldig. Er erodiert die Frage nach der Moral und zerstört Intersubjektivität.

Keine Scheu vor Politik

Als Kanadier ist Taylor in besonderer Weise mit den Problemen einer multiethnischen Gesellschaft und mit Migrationsproblemen vertraut. Er scheute Berührungen zur Politik nicht, kandidierte für die sozialdemokratische Partei sogar für das kanadische Parlament- und unterlag dem späteren Premier Pierre Trudeau. Taylor weiß: gerade eine plurale multiethnische Gesellschaft erfordert moralische Urteilsfähigkeit. Sie muss um ihre Sinnquellen wissen. Eine Moderne, die um ihre Wurzeln nicht weiß, ist auch zu Toleranz nicht in der Lage. Ähnlichkeiten dieses Impulses mit den Ansätzen aus der Schule Joachim Ritters, aus der unter anderem Robert Spaemann und Hermann Lübbe kamen, sind auffällig.

 

Charles Taylor im Video: Die Suche nach der perfekten Gemeinschaft

 

Taylor ist als Autor magistraler Monographien hervorgetreten: Die 1975 publizierte Hegel-Monographie eröffnete in den angelsächsischen Traditionen ein neues Interesse an Hegel, das bis zu Robert Brandoms jüngsten Neudeutungen reicht. Taylor sah einerseits den überwölbenden Hegelschen Systemgedanken als gescheitert an, andrerseits aber sei es Hegel, der nach wie vor das Verständnis der Moderne zwischen Subjektivität einerseits und Szientismus andrerseits exemplarisch auf den Begriff bringt. Dabei rückt Taylor konsequent in den Horizont des Expressivismus: Er steht im Horizont des Sprachdenkens von Humboldt und Herder.

Fokus auf letzte Ziele

1989 erschien die philosophische Grundlegung „Sources of the self“ (deutsch: „Quellen des Selbst“, 1994), die in historisch weit ausgreifender Weise individuelle Welterschließung an Lebensformen und Traditionen knüpft. Dabei schließt Taylor an so unterschiedliche Referenzautoren wie Hegel und Ludwig Wittgenstein an. Nicht eine „desengagierte Vernunft“, sondern eine Vernunft in kontextuellen Verwebungen und orientiert auf die letzten Ziele steht im Blick.

Mit seinem monumentalen Buch „Ein säkulares Zeitalter“ (deutsch 2009) geht Taylor von dem Befund aus, dass christliche Religionszugehörigkeit um 1500 eine mehr oder minder unbefragte Selbstverständlichkeit gewesen sei. Dies ist um das Jahr 2000 offensichtlich grundlegend anders. Taylor spricht von „Säkularität“ als der Grundprägung des Zeitgeists der Moderne. Taylor fragt, was in der Zwischenzeit geschehen ist. Von magistralen Modernetheorien wie Max Webers Lehre von der „Entzauberung der Welt“ unterscheidet sich Taylor grundsätzlich darin, dass er in einer differenzierten Mentalitätsgeschichte zeigt, der christliche Glaube selbst habe die säkulare Moderne hervorgebracht. Das moderne Subjekt bewegt sich in einer Art Niemandsland zwischen Glaube und atheistischer Säkularität. Das „Unbehagen an der Moderne“ ist nicht aufgelöst. Die beiden Seiten erweisen sich aber als notwendige Komplementaritäten, um das Stromsystem eines Verständnisses der späten Moderne erfassen zu können.

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Die religiöse Stimme 

Zu Recht erfuhr Taylors Säkularitäts-Buch vielfache Rezeptionen, nicht nur in den Geschichts- und Sozialwissenschaften, sondern auch in der Theologie. Es geht nicht wie beim späten Habermas oder Rawls nur darum, dass die religiöse Stimme am Diskurs beteiligt werden muss. Vielmehr ist sie für die Normativität der Moderne selbst entscheidend. Säkulare und religiöse Stimmen müssen in ihrer ganzen Breite gehört und wahrgenommen werden. Dies ist die Grundvoraussetzung für eine prästabilierte Harmonie in den komplexen modernen Gesellschaften. Kaum etwas könnte heute aktueller sein.

Trotz seines ehrwürdigen Patriarchenalters ist Charles Taylor ein junger, höchst präsenter Denker geblieben. In seinen neuen Büchern beschäftigt ihn die „Wiedergewinnung des Realismus“ und vor allem eine Frage, die die westliche Welt zutiefst in Atem hält: „Reconstructing Democracy“. Es geht darum, wie das Gemeinwesen von Grund auf rekonstruiert und ein Gemeinsinn wiedergewonnen werden kann. Diese Frage ist nach Taylor nicht unabhängig von der anderen Frage zu beantworten, wie der christliche Glaube in der modernen Welt präsent bleiben kann.


Der Autor ist Professor für Philosophie und Religionswissenschaft an der evangelischen Staatsunabhängigen Theologischen Hochschule Basel und Vorsitzender des Vorstands der Martin-Heidegger-Gesellschaft.

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