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Atheist aus Gnaden

Als Sohn eines Pfarrers hat man es nicht leicht. Der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt arbeitete sich sein Leben lang am Elternhaus ab. Dabei ließ ihn die Religion nie los.
Friedrich Dürrenmatt
Foto: dpa | Er sah das Absurde und liebte das Groteske in der Welt: Der Schweizer Dramatiker Friedrich Dürrenmatt (1921–1990).

Die ganze Welt sei ein Theater zur Darstellung der Ehre Gottes, hatte der Genfer Reformator Johannes Calvin gepredigt. Wie sehr hätte er sich gefreut, zu diesem Zweck einen der bedeutendsten Bühnenautoren des 20. Jahrhunderts an seiner Seite zu haben. Doch Friedrich Dürrenmatt, der als Sohn eines reformierten Pfarrers bestens mit den Werken Calvins vertraut gewesen sein dürfte, hatte andere Pläne.

Dürrenmatt erblickte 1921 im schweizerischen Dorf Konolfingen das Licht der Welt. Ist das Leben als Pfarrerssohn ohnehin schon mit einer gewissen Mühsal verbunden, potenziert sich diese durch das dörfliche Umfeld noch um ein Vielfaches. Der Betroffene selbst schreibt im Rückblick: „Das Dorf ist grausam. Noch unerbittlicher sind die Kinder. Der Sohn des Pfarrers ist nicht einer von ihnen. Er ist anders. Vor ihm verschweigt man vieles, auch die Erwachsenen reden nicht ohne Vorsicht. Der Sohn des Pfarrers lebt mit der Jugend des Dorfes, ohne ihr anzugehören. Er ist von ihr nur geduldet. Sie ist ihm gegenüber misstrauisch, oft höhnisch. Ich wusste nie, zu welcher Gruppe ich gehörte. Ich wurde ein Einzelgänger.“ Dürrenmatts überdurchschnittliche Begabung dürfte ebenfalls nicht zu einer leichten Eingliederung in sein Umfeld beigetragen haben. Es ist somit wenig verwunderlich, dass er auch die Schule als „wahnsinnigen Zwang“ empfindet, in der er sich immer „irgendwie als der böse Geist in der Klasse“ fühlte. Gemeinschaft mit den anderen Kindern fand der junge Friedrich aber im kreativen Nachspielen des in der Schule Gehörten, sei es in der Inszenierung der eidgenössischen Schlachten oder im Nachahmen germanischer Mythen.

Doch selbst diese Lichtblicke wurden ihm durch die Erwachsenen genommen: „Sie teilten unsere Zeit ein: wann wir schlafen, aufwachen, essen mussten. Ihre Befehle begrenzten unsere Kriege und Schlachten. Die Erwachsenen waren allgewaltig und hielten zusammen.“ Der Protest gegen die elterliche Autorität geht sogar so weit, dass Dürrenmatt kurzzeitig Sympathien für Adolf Hitler entwickelt, den er als „christlichen Bürgerschreck“ begrüßt. Diese Hinwendung zu einer totalitären Ideologie kann wohl nur als pubertärer Protest gewertet werden, steht sie doch Dürrenmatts unbändigem Drang nach Individualität diametral entgegen.

Unterordnung war Dürrenmatts Sache nicht. Ausgestattet mit großem Talent und einem nicht minder großen Selbstbewusstsein, kommt er zu der Überzeugung, dass er sich einzig und allein auf sich selbst verlassen kann. Er möchte aus sich selbst heraus existieren. Aus diesem Grund kann er insbesondere der Frömmigkeit seiner Mutter, die alles, was um sie herum geschah, als Erfüllung ihrer Gebete deutete, nichts abgewinnen. Regelrecht gekränkt fühlt er sich dadurch, dass sie auch seine persönlichen Erfolge nicht als eigenständige Leistung anerkennen wollte und stattdessen Gott zuschrieb: „Alles geschah [ihrer Meinung nach] durch Gottes Gnade, auch später war jeder meiner literarischen Erfolge von Gott inszeniert, eine Vorstellung, die mich maßlos ärgerte, umso mehr, als sie meinen Ärger lächelnd ertrug.“ Kleinere literarische Erfolge stellen sich für Dürrenmatt bereits kurz nach dem Krieg ein. 1946 beendet er die Arbeit an einer kleinen Erzählung mit dem Titel „Pilatus“. Erzählt wird die Begegnung des römischen Statthalters mit Jesus von Nazareth. Anders als in der biblischen Vorlage erkennt Pilatus, aus dessen Perspektive das Geschehen geschildert wird, unmittelbar, dass niemand anders als Gott vor ihm steht. Doch die Augen dieses Gottes, in die er blickt, machen ihn misstrauisch. „Sie waren nicht anders gewesen als Menschenaugen, nicht mächtiger oder von solchem Licht, wie er es an griechischen Götterbildern bewunderte. Auch lag nicht die Verachtung in ihnen, welche die Götter gegen die Menschen hegen, wenn sie auf Erden wandeln, ganze Geschlechter zu vernichten […] Es lag eine bedingungslose Unterwerfung in ihnen, die aber eine heimtückische Verstellung sein musste, weil dadurch die Grenze zwischen Gott und Mensch aufgehoben und so Gott Mensch und Mensch Gott geworden wäre.“ Somit wird Pilatus zur tragischen Figur, deren Skepsis sie daran hindert, die ihr zuteilgewordene Gnade Gottes anzunehmen und den Sprung in den Glauben zu wagen.

Wie sehr sich Dürrenmatt mit dem römischen Statthalter identifizieren konnte, offenbart ein rührender Brief an seine Mutter anlässlich ihres 56. Geburtstages im Jahre 1942: „Du hättest einen tausendmal besseren Sohn verdient, als ich es bin. Ich gäbe alles drum, wenn ich die Wunden heilen könnte, die ich Dir geschlagen. Aber vielleicht ist dies unmöglich. Warum sind wir beide doch so verschieden, Du und ich, sind wir doch Mutter und Sohn! Warum kann ich nicht an einen Gott glauben wie Du! Es ist mir manchmal, als wären alle meine Gefühle erfroren, und wenn ich fühle, gibt es keinen Namen dafür. Ich möchte meinen Kopf in Deinen Schoß legen und schlafen.“ Der 21-jährige Friedrich sehnt sich nach der Geborgenheit der mütterlichen Wärme, nach jenem kindlichen Vertrauen, das ihm abhandengekommen scheint, so er es je besessen hat. Und wem dieses kindliche Gemüt fehlt, dem bleibt das Himmelreich bekanntlich verschlossen.

Sein erstes Drama „Es steht geschrieben“ bringt Dürrenmatt am 19. April 1947 auf die Bühne des Schauspielhauses Zürich. Das Stück schildert auf tragikomische Weise die Geschichte des Täuferreichs von Münster. Im Jahre 1534 begannen radikale Anhänger der Reformation, die westfälische Bischofsstadt in ein eschatologisches Regime umzuwandeln, das von Fanatismus und Gewalt geprägt war und ein Jahr später durch Fürstbischof Franz von Waldeck militärisch zerschlagen wurde. Irrationalität und Sinnlosigkeit prägen den Charakter des Stückes, beinahe ähnelt es dem absurden Theater. Veranschaulichen mag dies eine kurze Szene zum Ende des Werkes, in der zwei Straßenkehrer damit beschäftigt sind, die Gehwege von den Leichenbergen zu befreien. Einer der beiden ist hoch gebildet, kann die 524. Leiche korrekt als quingenti viginti quattuor benennen und hat, wie er stolz bekennt, Medizin und Theologie studiert. Doch sein Kollege erwidert nur: „Tot ist tot, da braucht es keine Theologie.“

Der Autor selbst nennt den Massenwahn des Dritten Reiches als Grundlage für die Handlung des Stückes. Doch die Erfahrungen jener Jahre hatten nicht nur Einfluss auf einzelne Werke Dürrenmatts, sondern auch auf dessen gesamte Dramentheorie: „Die heutige Welt, wie sie uns erscheint, lässt sich schwerlich in der Form des geschichtlichen Dramas Schillers bewältigen, allein aus dem Grunde, weil wir keine tragischen Helden, sondern nur Tragödien vorfinden, die von Weltmetzgern inszeniert und von Hackmaschinen ausgeführt werden. Aus Hitler und Stalin lassen sich keine Wallensteine mehr machen. Ihre Macht ist so riesenhaft, dass sie selber nur noch zufällige, äußere Ausdrucksformen dieser Macht sind, beliebig zu ersetzen, und das Unglück, das man besonders mit dem ersten und ziemlich mit dem letzten verbindet, ist zu weitverzweigt, zu verworren, zu grausam, zu mechanisch geworden und oft einfach auch allzu sinnlos. Die Macht Wallensteins ist eine noch sichtbare Macht, die heutige Macht ist nur zum kleinsten Teil sichtbar, wie bei einem Eisberg ist der größte Teil im Gesichtslosen, Abstrakten versunken […] Die Kunst dringt nur noch bis zu den Opfern vor, dringt sie überhaupt zu Menschen, die Mächtigen erreicht sie nicht mehr. Kreons Sekretäre erledigen den Fall Antigone.“ Eine von Dürrenmatts Figuren, die dieser Hilflosigkeit zu entkommen sucht, ist Kommissar Bärlach, Held des Romans „Der Richter und sein Henker“ (1950). Der todkranke Detektiv möchte vor seinem unabwendbaren Ende noch seinen Erzfeind Gastmann zur Strecke bringen. Da Bärlach nicht in der Lage ist, Gastmann wegen eines seiner vielen tatsächlichen Verbrechen zu überführen, greift er schließlich zur Selbstjustiz und richtet ihn für eines, das er nicht begangen hat. In dem Fortsetzungsroman „Der Verdacht“ (1951) jedoch hält der Jude Gulliver, der die Schrecken des Dritten Reiches im Konzentrationslager erleben musste, dem gerechtigkeitsliebenden Kommissar unbarmherzig den Spiegel vor: „Man kann heute nicht mehr das Böse allein bekämpfen, wie die Ritter einst allein gegen irgendeinen Drachen ins Feld zogen. Die Zeiten sind vorüber, wo es genügt, etwas scharfsinnig zu sein, um die Verbrecher, mit denen wir es heute zu tun haben, zu stellen. Du Narr von einem Detektiv; die Zeit selbst hat dich ad absurdum geführt!“

Auch in Dürrenmatts berühmtem Bühnenwerk „Der Besuch der alten Dame“, uraufgeführt am 29. Januar 1954 im Schauspielhaus Zürich, kommt jene Sehnsucht nach der Macht des Einzelnen zum Vorschein. Die steinreiche Protagonistin des Stücks, Claire Zachanassian, verlangt Vergeltung für das himmelschreiende Unrecht, das ihr von den Bewohnern der Gemeinde Güllen zugefügt wurde, sie verlangt den Tod des Verräters Alfred Ill.

Der humanistisch geprägte Lehrer der Stadt möchte sie von diesem unheilvollen Weg abbringen: „Frau Zachanassian! Sie sind ein verletztes liebendes Weib. Wie eine Heldin der Antike kommen Sie mir vor, wie eine Medea. Doch weil wir Sie im tiefsten begreifen, geben Sie uns den Mut, mehr von Ihnen zu fordern […] Ringen Sie sich zur reinen Menschlichkeit durch!“ Die Angesprochene erwidert: „Die Menschlichkeit, meine Herren, ist für die Börse der Millionäre geschaffen, mit meiner Finanzkraft leistet man sich eine Weltordnung.“

Da ist sie, die Heldin der Antike, die ihr Schicksal selbst in die Hand nimmt, die nicht in der gesichtslosen Masse untergeht, die keiner Sekretäre für ihr Streben nach Gerechtigkeit bedarf. Dass sie hierzu nur aufgrund ihrer enormen Finanzkraft in der Lage ist, haftet ihr zwar als Makel an, doch ist es gerade dieses sündhafte Vermögen, nach denen sich die Einwohner Güllens sehnen. Gleich zu Beginn wird die gesamte Lage der Stadt, ja der Welt, in einem kurzen Gespräch erläutert:

DER BÜRGERMEISTER: Meine Herren, die Milliardärin ist unsere einzige Hoffnung. DER PFARRER: Außer Gott. DER LEHRER: Aber der zahlt nicht.

Zwei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1990 veröffentlicht Dürrenmatt schließlich einen Aufsatz, der die Summe seiner Haltung zur Religion in drei Worten zusammenzufassen scheint: Pflicht zum Atheismus. Wie kommt es, dass der große Schriftsteller die Ablehnung jedweder Religion nicht nur als persönlichen Weg, sondern als kategorische Pflicht des Menschengeschlechts betrachtet?

Letzten Endes geht es auf sein von frühester Jugend angelegtes Streben nach Unabhängigkeit zurück. Der Glaube an Gott steht diesem persönlichen Drang entgegen. Deshalb hält er fest: „Der Mensch muss nicht erlöst werden, er steht vor der viel schwierigeren Aufgabe, sich selbst zu erlösen.“ Diese existenzialistische Weltsicht begleitete Dürrenmatt sein ganzes Leben. Ob sie ihn glücklich gemacht hat, wissen wir nicht. Trost hat sie ihm mit Sicherheit keinen geschenkt. Ihm blieben stets nur die Worte des Bischofs aus „Es steht geschrieben“: „Wir wollen uns trösten: Am Ende liegen wir alle.“

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