„Dilexi te“ – „Ich habe dich geliebt“ ist der Titel des ersten Apostolischen Schreibens von Leo XIV., das der Vatikan heute veröffentlicht hat. Wie es in einem ersten Kommentar des Chefredakteurs der Vatikan-Medien, Andrea Tornielli, heißt, handele es sich nicht um einen Text zur Soziallehre der Kirche, auch befasse sich das Schreiben nicht mit der Analyse spezifischer Probleme: „Vielmehr legt es die Grundlagen der Offenbarung dar und hebt dabei die enge Verbindung zwischen der Liebe Christi und seinem Aufruf hervor, uns der Armen anzunehmen.“
Die zentrale Bedeutung der Liebe zu den Armen gehöre zum Herzen des Evangeliums selbst und könne nicht als „Steckenpferd“ einiger Päpste oder bestimmter theologischer Strömungen abgetan werden. Die Liebe zum Herrn verbindet sich immer mit der Liebe zu den Armen, schreibt Papst Leo in „Dilexi te“.
In der Tradition der Vorgänger
Der neue Papst reiht sich mit diesem am 4. Oktober, dem Festtag des heiligen Franz von Assisi, unterzeichneten Dokument, dessen Titel aus der Offenbarung des Johannes (Offb 3,9) stammt, in die Tradition seiner Vorgänger ein: Johannes XXIII. mit seinem Appell an die reichen Länder in „Mater et Magistra“, den von Hunger und Elend bedrängten Ländern nicht gleichgültig gegenüberzustehen. Paul VI. sah sich mit „Populorum progressio“ und seiner Rede vor den Vereinten Nationen „als Anwalt der armen Völker“. Johannes Paul II. festigte lehrmäßig „die vorrangige Option der Kirche für die Armen“ und Benedikt XVI. gab mit seiner dritten Enzyklika „Caritas in Veritate“ von 2009 den Krisen des dritten Jahrtausends eine ausgesprochen politische Lesart.
Papst Franziskus hat schließlich die Sorge „für die Armen“ und „eine arme Kirche für die Armen“ zu einem der Grundpfeiler seines Pontifikats gemacht. Von ihm stammt auch der Entwurf von „Dilexi te“, den Papst Leo vollendet und jetzt als „Apostolische Exhortation“ – wörtlich „Apostolische Ermahnung“ – herausgegeben hat.
Der Reichtum wuchs, die Gerechtigkeit nicht
Doch was steht in dem ersten Schreiben von Leo XIV.? Der Papst greift das Thema der „vorrangigen Option“ für die Armen auf. „Die Lebenssituation der Armen ist ein Schrei“, heißt es in dem Text, „der in der Geschichte der Menschheit unser eigenes Leben, unsere Gesellschaften, die politischen und wirtschaftlichen Systeme und nicht zuletzt auch die Kirche beständig hinterfragt. Im verwundeten Gesicht der Armen sehen wir das Leiden der Unschuldigen und damit das Leiden Christi selbst.“
Wenn man sage, so der Papst, dass die moderne Welt die Armut verringert habe, dann messe man sie an Kriterien aus anderen Epochen, die mit der heutigen Realität nicht vergleichbar seien. Leo zitiert Franziskus aus der Enzyklika „Fratelli tutti“: „Es gibt wirtschaftliche Regeln, die sich für das Wachstum als wirksam erwiesen haben, aber nicht für die ganzheitliche Entwicklung des Menschen. Der Reichtum ist gewachsen, aber ohne Gerechtigkeit, und so entsteht neue Armut. Wenn man sagt, dass die moderne Welt die Armut verringert hat, dann misst man sie mit Kriterien aus anderen Epochen, die mit der heutigen Realität nicht vergleichbar sind. In anderen Zeiten galt beispielsweise der fehlende Zugang zu Elektrizität nicht als Zeichen von Armut und war kein Grund für große Not. Armut wird immer im Kontext der realen Möglichkeiten eines konkreten historischen Moments analysiert und verstanden.“
„Eine Wirtschaft, die tötet“
Die Liebe zu Gott und die Liebe zu den Armen sind für Papst Leo nicht zu trennen: „Es ist unbestreitbar, dass die vorrangige Stellung Gottes in der Lehre Jesu mit dem anderen Grundpfeiler einhergeht, dass man Gott nicht lieben kann, wenn man nicht auch den Armen Liebe erweist. Die Nächstenliebe ist der greifbare Beweis für die Echtheit der Liebe zu Gott.“
Der Papst bekräftigt, dass das Liebesgebot, das besonders den Armen gelte, auch heute drängend sei, insbesondere in einer Zeit, in der weiterhin die „Diktatur einer Wirtschaft, die tötet“ herrsche, in der die Gewinne einiger weniger „exponentiell wachsen“, während diejenigen der Mehrheit „immer weiter vom Wohlstand dieser glücklichen Minderheit entfernt sind“ und in der „Ideologien, die die absolute Autonomie der Märkte und die Finanzspekulation verteidigen“, weit verbreitet sind. Aber der Herr selbst lehre, dass jeder Akt der Nächstenliebe in gewisser Weise ein Widerschein der Gottesliebe sei: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40).
Heilige Vorbilder der Kirche
Als Gegengewicht zu dieser Gleichgültigkeit gebe es eine Welt von Heiligen, Seligen und Missionaren, die im Laufe der Jahrhunderte das Bild einer „armen Kirche für die Armen“ verkörpert hätten, schreibt der Papst: Von Franz von Assisi und seiner Geste, einen Aussätzigen zu umarmen, bis hin zu Mutter Teresa, der universellen Ikone der Nächstenliebe, die sich den Sterbenden in Indien „mit einer Zärtlichkeit, die Gebet war”, gewidmet habe. Er erwähnt Laurentius, Justin, Ambrosius, den heiligen Johannes Chrysostomos und „seinen“ Augustinus, der geschrieben habe: „Wer sagt, er liebe Gott, und kein Mitgefühl für die Bedürftigen hat, der lügt.”
Leo nennt auch das Werk der Kamillianer für die Kranken und der Frauenkongregationen in Krankenhäusern und Pflegeheimen. Er erinnert an die Aufnahme von Witwen, verlassenen Kindern, Pilgern und Bettlern in den Benediktinerklöstern und erwähnt Franziskaner, Dominikaner, Karmeliten und Augustiner, die durch einen „einfachen und armen Lebensstil“ eine „evangelische Revolution“ ausgelöst hätten.
Kirche und Migration
Ausführlich widmet sich Leo XIV. dem Thema Migration. Er verweist auf das jahrhundertelange Wirken der Kirche für diejenigen, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen, das sich in Aufnahmezentren, Grenzmissionen, den Bemühungen der „Caritas Internationalis“ und anderer Institutionen ausdrückt (75). „Wie eine Mutter“, schreibt der Papst, „begleitet die Kirche alle, die unterwegs sind. Wo die Welt Bedrohungen sieht, sieht sie Kinder; wo Mauern errichtet werden, baut sie Brücken. Sie weiß, dass ihre Verkündigung nur dann glaubwürdig ist, wenn sie sich in Gesten der Nähe und der Aufnahme ausdrückt; und dass in jedem zurückgewiesenen Migranten Christus selbst an die Türen der Gemeinschaft klopft.“
Leo XIV. macht sich die berühmten „vier Verben“ von Papst Franziskus zu eigen: „Aufnehmen, schützen, fördern und integrieren”. Und von seinem Vorgänger übernimmt er auch die Definition der Armen nicht nur als Objekte des Mitgefühls, sondern als „Lehrer des Evangeliums“.
Die Armen: mehr als ein soziales Problem
Es sei notwendig, dass „wir uns alle von den Armen evangelisieren lassen“, mahnt der Papst. „Der Christ kann die Armen nicht nur als soziales Problem betrachten: Sie sind eine Familienangelegenheit. Sie gehören zu uns.“ Daher könne die Beziehung zu ihnen nicht auf eine Aktivität oder ein Amt der Kirche reduziert werden. Das Herz der Kirche sei ihrem Wesen gemäß solidarisch mit denen, die arm, ausgegrenzt und an den Rand gedrängt seien, mit denen, die als „Abfall“ der Gesellschaft betrachtet würden.
„Die Armen gehören zur Mitte der Kirche“, schreibt der Papst, denn so zitiert er Franziskus aus „Evangelii gaudium“, „aus unserem Glauben an Christus, der arm geworden und den Armen und Ausgeschlossenen immer nahe ist, ergibt sich die Sorge um die ganzheitliche Entwicklung der am stärksten vernachlässigten Mitglieder der Gesellschaft“.
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