Herr Frings, in den „politischen Erwartungen“ des ZdK steht, man solle migrationspolitische Maßnahmen, anders als gerade beobachtbar, nicht „anlassbezogen“ ergreifen. Warum eigentlich?
Natürlich hat die Politik eine Verantwortung zu reagieren. Eine Asyl-Verschärfung zur jetzigen Zeit halten wir aber für äußerst problematisch. Wir haben es ja mit einer ganzen Reihe von sehr schrecklichen, traurigen Anschlägen zu tun, die alle sehr unterschiedlich gelagert waren. Es gab eine radikale Motivation bei den Tätern, aber es gab auch psychische Erkrankungen, sodass ja im Grunde genommen jeder Fall - Solingen, Magdeburg, Mannheim, Aschaffenburg – nochmal differenziert zu betrachten ist. Hinzu kommt: Seit zehn Jahren ist Migration ein obenauf liegendes Thema und jetzt wird es ausgerechnet während eines politischen Vakuums ins Parlament eingebracht, ohne dass wir stabile politische Mehrheiten haben. Jetzt haben wir eine Situation, in der Entschließungsanträge eingebracht werden, aber auch die Minderheitsregierung Dinge vorlegt, die hinterher unter Umständen nicht umgesetzt werden, weil die Zeit dafür einfach nicht ausreicht. Stattdessen wird der Bundestag selbst zur Wahlkampfbühne. Und dass eine Partei der Mitte, die CDU, die bisher andere Themen gesetzt hatte, nun Migration zum Wahlkampfthema macht, ist ein Problem, weil wir ja wissen, dass in der Regel nur die Partei von der Fokussierung auf ein Thema besonders profitiert, mit dem sie selbst in Verbindung gebracht wird. Das haben wir 2021 beim Klimawahlkampf zugunsten der Grünen gesehen. Und jetzt werden wir es bei der Migrationsdebatte zugunsten der AfD sehen.
Das ZdK fordert, Migrationspolitik „nachhaltig“ zu gestalten, Vorschläge, die zu einer Reduzierung der Zuwanderung führen könnten, fehlen aber. Was ist daran nachhaltig?
Ich habe ein Problem damit, den Begriff der Reduzierung so stehen zu lassen. Wir sagen als ZdK, dass das individuelle Grundrecht auf Asyl erhalten bleiben soll. Wir finden, dass die Aufnahmekontingente und die Herausforderungen, die mit Aufnahmekontingenten einhergehen, solidarisch in der Europäischen Union diskutiert werden müssen, aber gleichzeitig sagen wir, dass wir nicht über Obergrenzen für den Nachzug subsidiärer Schutzberechtigter nachdenken wollen. Und wir sind natürlich auch dafür, dass es weiterhin einen Rechtsanspruch auf den Geschwisternachzug geben soll. Damit sehen wir uns in der politischen Mitte verortet, merken aber, dass diese Positionen angegriffen werden. Aber wir sind keine Partei, sondern entwickeln diese Positionen aus unserem christlichen Glaubens- und Wertekanon. Und aus dem heraus kann man nur zu diesen Überzeugungen kommen. Aber nochmal zu den Vorschlägen, die jetzt im Bundestag diskutiert werden: Da warnen auch Juristinnen und Juristen davor, dass hier bestehendes Europarecht unterlaufen wird. Jetzt steht es natürlich allen zu, völkerrechtliche und europarechtliche Regelungen aufzuschnüren und neu zu verhandeln. Aber gleich damit anzufangen, Schengen-Vereinbarungen aufzuweichen, weil man glaubt, nationalstaatlich wieder Vorkehrungen treffen zu können, das setzt eben ein dickes Fragezeichen hinter die grundsätzlichen Wertevorstellungen, die wir mit Europa und dem europäischen Integrationsprozess in Verbindung bringen.
Wie erklären Sie sich denn diese Entwicklung der Union beim Thema Migration?
Die CDU ist im Selbstverständnis eigentlich eine Volkspartei der Mitte, die nicht per se eine konservative Partei ist. Was wir jetzt beobachten, ist aber, dass die CDU nach der Ära Merkel in eine Orientierungssuche hineingegangen ist, in der der klassische Dreiklang aus liberaler, konservativer und christlich-sozialer Strömung nicht mehr gehalten werden konnte. Wir haben jetzt eine klare Dominanz eines sehr konservativen Flügels, der es anderen innerhalb der Partei schwerer macht, noch Gehör zu finden. Wir sehen das aus rein christlicher Perspektive ja auch darin, dass es zuletzt, als es um die programmatischen Debatten innerhalb der Partei ging, durchaus schwierig war, das C überhaupt noch mit Leben zu erfüllen. Es gab ja auch die – aus meiner Sicht wenig nachvollziehbare – Debatte, ob das Bürgerliche nicht das Christliche ersetzt und das allein zeigt ja, wie die Kräfteverteilung aktuell aussieht. Ich würde mir wünschen, dass es der Partei gelingt, alle drei Strömungen, die sie braucht, um erfolgreich zu sein, gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Abweichende Stimmen gibt es ja weiterhin. Wenn Sie in die aktuelle Debatte reinschauen, sehen Sie ja, dass zum Beispiel Daniel Günther (der schleswig-holsteinische Ministerpräsident, Anm. d. Red.), der ja auch Mitglied des ZdK ist, hier einen anderen Ton findet.
In der aktuellen Verfassung scheinen die Überschneidungen zwischen ZdK und CDU jedenfalls eher klein zu sein. Vergleicht man ihre „Erwartungen“ mit Parteiprogrammen, ich habe das kürzlich mithilfe von Chat-GPT gemacht, so finden sich die größten Übereinstimmungen mit den Grünen. Täuscht das?
Ich würde mal eine andere Methode wählen und sagen, wenn Sie den Wahl-O-Mat nutzen, dann haben Sie immer die Möglichkeit, Themenfelder noch einmal besonders zu gewichten. Und ich glaube, dann wird es deutlich differenziertere Positionierungen geben. Aber der Eindruck ist nicht gänzlich falsch, dass es eben Bewegungen insgesamt gab. Die CDU hat sich bewegt, die Grünen haben sich bewegt, aber das ZdK hat sich eben auch bewegt, sodass wir heute viel mehr Binnenpluralismus haben. Damit sind heute auch Positionen innerhalb des ZdK mehrheitsfähig, die vielleicht für überraschende Perspektiven in einer katholischen Laienorganisation sorgen. Aber nochmal zu Chat-GPT, ich habe aus Spaß einen Gegenprompt formuliert und die Regierungserklärungen von Angela Merkel mit unseren politischen Erwartungen verglichen. Da lässt sich feststellen, dass es sehr viele Überschneidungen gibt und dass die Regierungserklärungen von Frau Merkel durchaus Standing Ovations bei unseren Vollversammlungen erhalten hätten.
Dass grüne Programmatik und Merkel-Regierungserklärungen ihrerseits große Schnittmengen bilden, würde jetzt natürlich aus Merkel-kritischer Sicht auch nicht unbedingt einen Widerspruch darstellen…
Es zeigt aber eben, dass in der Union auch andere Positionen immer wieder mehrheitsfähig waren. Aber für uns ist es sowieso erstmal wichtig, wie wir uns selber verorten. Wir schauen uns nicht erst die Wahlprogramme der Parteien an, um dann zu sehen: Passt das auch zu denen, mit denen wir gerade besonders sympathisch im bilateralen Dialog stehen?
Vor der Bundestagswahl wollen Sie als ZdK nochmal in die Gesellschaft hineinwirken, und für „Demokratie und Zusammenhalt“ werben. Das Wort Zusammenhalt taucht in ihren „Erwartungen“ auch immer wieder auf, meistens nur in der Überschrift. Was ist damit konkret gemeint?
Zusammenhalt entsteht, wenn Vertrauen, Gerechtigkeit und Begegnung funktionieren, wenn es ein gutes Miteinander gibt. Was wir aber erleben, ist, dass vor allem in die eigene Blase hinein kommuniziert wird, dass man nur noch Medien konsumiert, vielleicht sogar nur noch Videosequenzen von wenigen Sekunden Länge konsumiert, die die eigene Meinung bestätigen. Das ist ein Trend, der vielleicht nicht neu ist, aber mittlerweile Ausmaße annimmt, die das System selbst, ja unsere demokratischen Errungenschaften immer mehr in Frage stellen. Wir wollen deshalb vor der Wahl auf die Straße gehen und Räume entstehen lassen, in denen sich Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen begegnen. Es geht letztlich darum, die aktive Zivilgesellschaft als eine Kernsäule des gesellschaftlichen Miteinanders zu stärken. Wenige Tage vor den Landtagswahlen im September letzten Jahres in Sachsen und Thüringen hatten wir genau so eine Aktion schon mal in Erfurt durchgeführt. Für mich war das neu, mit so vielen Menschen zu sprechen, die sehr ehrlich bekannten, dass sie die AfD oder BSW wählen würden und auch nochmal deren Beweggründe zu erfahren. Wir standen da einfach als Menschen, die zugehört haben und auf Rückfrage natürlich erläutert haben, warum wir das machen oder welche Haltung haben wir zu konkreten Politikfeldern haben. Ich glaube, diese Begegnung von Blasen sollten wir uns wechselseitig zumuten, denn davon können wir extrem profitieren. Es mag vielleicht naiv sein, dass wir jetzt wieder diese Straßenaktion durchführen, aber ich finde, das ist ein Moment von wichtiger Ertüchtigung: Wir verlassen unsere Büros und stehen in den Straßen für unsere Positionen als Christinnen und Christen ein. Ich will das jetzt nicht mit falschem Pathos überdramatisieren, aber die Frage ist doch auch, welche Verantwortung haben wir jetzt im Jahr 2025, damit die Brandbauer nicht wackelt. Diese Frage muss ich mir als Bürger dieses Landes genauso gefallen lassen, wie als Funktionär, der ich im ZdK bin, und wie Sie als Journalist und vierte Macht in dieser Republik.
Um die Zusammenhaltsfrage vielleicht nochmal rückzubinden an das Migrationsthema: Mir scheint es intuitiv nahezuliegen, dass Zusammenhalt auch von Gemeinsamkeiten kommt, und eine Gesellschaft, die durch Migration diverser wird, sich damit schwerer tut. Können Sie das irgendwie nachvollziehen?
Aber das ist doch nicht christlich! Gerade in der Anfangszeit der Migrationsdebatte, als wir noch über Pegida nachgedacht haben, da haben wir doch gesehen, dass die Vorbehalte vor dem vermeintlich Fremden bei Christen wesentlich weniger ausgeprägt sind als in der Breite der Gesellschaft. Ich als Christ, der ich die Nächstenliebe durchaus als einen konkreten Punkt in meiner Wertearchitektur verorte, frage doch erst mal, wer hier in Not ist. Und wenn ich überzeugt bin von meinen religiösen und christlichen Vorstellungen, dann weiß ich doch, dass mir die Präsenz einer muslimischen Community das nicht abspricht oder nimmt. Solange ich dieses Selbstbewusstsein habe, kann ich aus meiner christlichen Überzeugung heraus weiterhin mit dem Gegenüber ins Gespräch kommen. Wenn ich hier unsicher bin und in eine eher nationalistische Haltung hineingerate und dann womöglich noch diesen Nationalismus mit vermeintlich christlichen Inhalten ideologisch unterfüttere, dann habe ich das Christentum nicht richtig verstanden.
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