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Über den Glauben kann man nicht abstimmen

Die Diskussionen des Synodalen Weges zeigen: Mehrheit darf nicht mit Wahrheit verwechselt werden. Auch beim viel zitierten Glaubenssinn der Gläubigen gibt es offensichtlich falsche Vorstellungen. Wie verhält es sich wirklich? Welche Rolle spielt das apostolische Lehramt? Und wie wirken die Gläubigen bei der Wahrheitsfindung mit? Hier sind die Antworten.
Über Glauben kann man nicht abstimmen
Foto: Fredrik von Erichsen (dpa) | Wahrheit durch Mehrheit? Es könnte so einfach sein? Ist es aber nicht. Und das hat in Fragen des Glaubens gute Gründe. Mehrheitsentscheidungen der Politik lassen sich nicht auf Glaube und Kirche übertragen.

Könnte es nicht so einfach sein? Um verlorengegangenes Vertrauen wieder zu gewinnen, wagt die Kirche einen ungewohnten Schritt. In ihrer Verkündigung richtet sie sich schlicht an dem aus, was die Mehrheit der Gläubigen für richtig und wahr hält. Endlose Diskussionen finden ein demokratisch legitimiertes Ende und herausfordernde Aussagen der Heiligen Schrift können im Licht modernen Denkens neu gedeutet und „verheutigt“ werden. 

Tatsächlich wurden im Vorfeld des Synodalen Weges Stimmen laut, die von einem „Gebot der Stunde“ sprachen. Die Kirche und in ihr vornehmlich die Bischöfe müssten nun endlich auf das hören, was Gläubige denken. Verbindliche Entscheidungen seien zu fällen. Andere Stimmen hingegen warnten im Blick auf die Umsetzung des Synodalen Weges vor einer Art kirchlichem Parlament, in dem alle – Kleriker und Laien – unterschiedslos über Fragen des Glaubens und der Moral abstimmen und damit Wahrheiten des Glaubens zur Disposition gestellt würden.

Mehrheiten können sich wandeln und irren, die Wahrheit nicht

Wahrheit durch Mehrheit? So einfach ist es wohl doch nicht, zumindest nicht in Bezug auf den Glauben der Kirche. Der in kirchlichen Fragen eher unverdächtige französische Schriftsteller Jean Cocteau (1889–1963) konstatierte einmal, dass man die Mehrheit nicht mit der Wahrheit verwechseln dürfe. Das ist richtig. Mehrheiten können sich wandeln und irren, die Wahrheit nicht. 

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Mehrheiten garantieren folglich keine Wahrheit. Dann aber bleiben die Fragen, wie in der Kirche die Wahrheit des Glaubens gefunden und als solche verkündigt werden kann? Und in welcher Weise partizipieren die Gläubigen an der Wahrheitsfindung? Kommt diese letztlich allein dem kirchlichen Lehramt, sprich Papst und Bischöfen, zu?

Antworten des Zweiten Vatikanums

Das Zweite Vatikanische Konzil hat auf diese Fragen weitreichende Antworten gegeben, in denen auch erstmals die Lehre vom Glaubenssinn (sensus fidei) aller Gläubigen (sensus fidelium) ihren Niederschlag gefunden hat. Danach nimmt das Gottesvolk als Ganzes am prophetischen Amt Christi teil („Lumen gentium“, 12). Die Kirche verkündet unter dem Beistand des Heiligen Geistes das Wort Gottes, nimmt es gläubig an und bekennt es in Wort und Tat.

Die gesamte Gemeinschaft aller Gläubigen ist somit Trägerin von Glaube, Verkündigung und Bekenntnis. Zugleich ist sie in ihrem konkreten Tun strukturiert durch das Zusammenwirken des kirchlichen Lehramtes mit dem Glaubenssinn aller Gläubigen. Darin wird den einen jedoch nicht allein die Aufgabe der Verkündigung und den anderen der Glaube anvertraut. Die lehramtliche Verkündigung ist nach Winfried Aymans selbst immer „Frucht des Glaubens“ und ihre Träger (Papst und Bischöfe) „als Erstberufene Mitträger des Glaubenssinnes aller Gläubigen“. Was aber ist unter diesem Glaubenssinn im Blick auf die Findung der Glaubenswahrheit zu verstehen?   

Eine Art "geistlicher Instinkt"

Der Glaubenssinn bezeichnet ein allen Gläubigen (Laien und Klerikern) in Taufe und Firmung zukommendes Charisma der inneren Übereinstimmung mit dem Inhalt des kirchlichen Glaubens. 

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Für die Internationale Theologische Kommission ist der Glaubenssinn „eine Art geistlicher Instinkt“, der dem Gläubigen sakramental verliehen wird und ihn befähigt, „spontan zu beurteilen, ob eine besondere Lehre oder Praxis mit dem Evangelium und mit dem apostolischen Glauben übereinstimmt oder nicht“ (ITK, Schreiben von 2014, Nr. 49). Der heilige John Henry Newman sieht in dieser geistlichen Befähigung des Gläubigen nicht nur „ein Zeugnis für die Tatsache der apostolischen Lehre“, sondern sogar „ein Gefühl der Eifersucht gegen den Irrtum, den er sofort als ein Ärgernis empfindet“. 

Unaufgebbar mit dem Glauben der Kirche verbunden

Der Glaubenssinn steht somit unaufgebbar mit dem Glauben der Kirche in Verbindung und ist in seiner Ausprägung abhängig sowohl vom Inhalt des Glaubens (Glaubenswahrheiten) als auch von seinem Vollzug im Alltäglichen (Glaubensakt). 

Mit anderen Worten: Der Gläubige macht den ihm in Taufe und Firmung verliehenen Sinn für den Glauben nur da fruchtbar, wo er in Verbindung mit dem kirchlichen Glauben steht und ihn als Tugend christlicher Existenz lebt. Somit kann es „keine einfache Identifizierung zwischen dem sensus fidei und der öffentlichen Mehrheitsmeinung geben“ (ITK, Nr. 118), da die innere Ausrichtung des Glaubenssinnes stets der Glaube der Kirche und nicht die Vielfalt von bloßen Meinungen ist. 

Der Gläubige findet die Wahrheit nie allein

Der Gläubige findet die Wahrheit des Glaubens folglich nicht allein. Alles andere wäre ein hochmütiger Anspruch und mit der Gefahr verbunden, sich den Glauben nach eigenen Maßstäben zurechtzusetzen. Vielmehr ist der Sinn des Einzelnen für den Glauben immer eingebunden in die Kirche als einer hierarchisch strukturierten Gemeinschaft des Glaubens.

 In ihr kommt dem apostolischen Lehramt des Papstes und der Bischöfe, das seinen Ursprung nicht allein in Taufe und Firmung findet, sondern seinen eigenständigen Existenzgrund in der besonderen, durch das Weihesakrament vermittelten Sendung Jesu Christi zur Teilhabe an seiner Vollmacht besitzt (vgl. „Lumen gentium,“ 19–27), eine gestalterisch-verkündigende und schützend-prüfende Aufgabe zu. 

Warum es stets die prüfenden Instanz des apostolischen Lehramtes braucht

Das heißt: Zur Feststellung der Authentizität des im Glaubenssinn bekundeten Glaubens bedarf es stets der prüfenden Instanz des apostolischen Lehramtes. Positiv gewendet bedeutet das mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil, dass im Zusammenwirken vom Glaubenssinn der Gläubigen und dem Lehramt von Papst und Bischöfen der ganzen Kirche kraft der Salbung mit dem Heiligen Geist die Unfehlbarkeit im Glauben (infallibilitas in credendo) geschenkt ist. 

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Diese gnadenhaft vermittelte Eigenschaft macht sie als einmütige Übereinstimmung im Glauben aller Gläubigen (consensus fidelium) dann kund, „wenn sie ,von den Bischöfen bis zu den letzten gläubigen Laien‘ ihre allgemeine Übereinstimmung in Sachen des Glaubens und der Sitten äußert“ („Lumen gentium“, 12). Das gemeinsame Festhalten am so überlieferten Glauben bezeugt im Bekenntnis und in der täglichen Verwirklichung einen beständigen „Einklang… zwischen Vorstehern und Gläubigen“ („Dei verbum“, 10).

Das gemeinsame Festhalten der Gläubigen an den Glaubenswahrheiten und ihre gemeinsame Bezeugung in Wort und Tat ist folglich Ausdruck eines fruchtbar gewordenen Glaubenssinnes. Er ist dem einzelnen Gläubigen geschenkt (sensus fidei) und erwächst im Einklang des Glaubens zu einem einzigen Glaubenssinn aller Gläubigen (sensus fidei fidelium), zu einem consensus fidelium. 

Glaubenssinn setzt Glaubenspraxis voraus

Doch geht es nicht allein um die Erkenntnis und Bekräftigung bestehender Glaubenswahrheiten. Dem Glaubenssinn kann in den lebendigen Vorgängen kirchlichen Lebens auch das Charisma theologischer Wahrheitsfindung zukommen (vgl. ITK, 127). So entwickeln sich beispielsweise im Bereich der Volksfrömmigkeit neue Formen der Glaubenszeugnisse (zum Beispiel die eucharistischen Frömmigkeitsformen), deren Authentizität durch die lehramtliche Prüfung und Approbation bestätigt werden muss. 

Zu denken ist aber auch an vertiefte Glaubenserkenntnisse in Theologie und Glaubenspraxis (zum Beispiel in der Bezeugung der Glaubenswahrheiten der marianischen Dogmen von 1854 und 1950), die durch die lehramtliche Autorisierung ihre Legitimation gewinnen und verdeutlichen, dass Papst und Bischöfe zugleich Mitträger des Glaubenssinnes aller Gläubigen sind. 

Wie ist das dann mit der Uneinigkeit in Glaubensfragen?

Das Glaubensleben entfaltet sich so in einem wechselseitigen Zueinander, das vom apostolischen Lehramt und der Gemeinschaft aller Gläubigen aktiv mitvollzogen wird. Das eine Mal stärker aus Sicht des Lehramtes, dessen Verkündigung auf die Aufnahme bei den Gläubigen abzielt, das andere Mal erkennbarer aus Sicht des Glaubenssinnes der Gläubigen, der auf die Autorisierung durch das Lehramt zielt. Ist das aber nicht leichter gesagt als getan? Beweist die erkennbare Uneinigkeit in Fragen des Glaubens und seiner Verwirklichung sowie im Blick auf seine konkrete Umsetzung in der kirchlichen Praxis nicht den Haltbarkeitsverfall dieser Lehre vom Glaubenssinn? 

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Im Gegenteil! Vielmehr erinnern die nicht wenigen innerkirchlichen Schwierigkeiten an die notwendigen Dispositionen, die an den Glaubenssinn zu stellen sind, damit er als sakramentale Gabe tatsächlich Frucht tragen kann und sich folglich als authentische Manifestation des kirchlichen Glaubens und seiner Wahrheit, die Jesus Christus selbst ist (vgl. Joh 14,6), darstellt.

Eine  Gewissenserforschung für den Synodalen Weg

 Worin bestehen diese Dispositionen? Das Zweite Vatikanische Konzil („Lumen gentium“, 12) und die Internationale Theologische Kommission (ITK, Nr. 87) verweisen dafür auf eine Reihe von Haltungen, die im aktuellen Synodalen Weg zu einer Art „Gewissenserforschung“ für alle Beteiligten werden können. Denn nur so kann der Synodale Weg tatsächlich zu einer geistlichen Erneuerung und damit zu einem Weg der Neuwerdung in der Heiligkeit des einen Glaubens der ganzen Kirche werden. 

Zu diesen Dispositionen eines authentischen Glaubenssinnes des einzelnen Gläubigen wie der ganzen kirchlichen Gemeinschaft gehören 1) die Teilnahme am Leben der Kirche in den Sakramenten, in Caritas und Mission sowie im sentire cum Ecclesia, 2) die Hörbereitschaft gegenüber dem Wort Gottes und seinem bleibenden Anspruch gegenüber dem Menschen, 3) die Offenheit gegenüber der Vernunft, die den Glauben tiefer zu durchdringen versucht, 4) die Anerkennung des apostolischen Lehramtes von Papst und Bischöfen (vgl. Lk 10,16), 5) das Bemühen um die Tugend der Heiligkeit in Demut, Freiheit und Freude des Glaubens an den Gott, der die Liebe ist (vgl. 1 Joh 4,16) und 6) das Streben nach einem Aufbau der Kirche und ihres Glaubens in den Herzen der Menschen. 

Wird die Wahrheit durch die Mehrheit erkennbar?

Wird also die Wahrheit durch die Mehrheit erkennbar? Nein, wenn die Mehrheit bloß auf öffentlichen Meinungen beruhen sollte, denen der innere Bezug zum Glauben der Kirche fehlt. Ja, wenn die Mehrheit jenen Einklang mit dem Glauben der ganzen Kirche zum Ausdruck bringt, der von der Überzeugung geprägt ist: „Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt. Dann wird euch der Vater alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet.“ (Joh 15,16).

Autor Christoph Ohly ist Professor für Kirchenrecht an der Theologischen Fakultät Trier und kommissarischer Rektor der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Augustin. - Mehr zum Thema erfahren Sie in "Welt&Kirche", der Sonderbeilage der Tagespost zum Synodalen Weg.  Die Sonderpublikation ist erhältlich beim Johann Wilhelm Naumann Verlag, Würzburg.
 

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