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Stefan Mückl: Pranger und Sündenbock sind zurück

Der Synodale Weg schiebt persönliche Schuld auf das kirchliche System und bedient sich unrechtmäßiger Beschämungstaktiken, so der Kirchenrechtler.
Ein hölzerner Pranger mit Eisenketten ist am 21.06.2016 in Wallenfels (Bayern) auf einem Spielplatz zu sehen.
Foto: Nicolas Armer (dpa) | Ein hölzerner Pranger mit Eisenketten ist am 21.06.2016 in Wallenfels (Bayern) auf einem Spielplatz zu sehen.

Die Kirche in Deutschland durchmisst schwere Zeiten. Angefochten von Vorkommnissen in der Vergangenheit, die sie zu Recht tief beschämen, und unverstanden von einer Gegenwart, die sie für unzeitgemäß hält, will sie sich gleichwohl „mit Optimismus“, wie ihre institutionellen Vertreter bekunden, auf die Zukunft zubewegen. Zukunft ist, wie jeder Politiker weiß, ein positiv besetzter Begriff. Dementsprechend gehört die Zukunfts-Metaphorik zum festen Repertoire jeder Sonntags-Rede und Feiertags-Predigt (jedenfalls dann, wenn ihre mediale Rezeption beabsichtigt ist).

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Nicht wenige innerhalb wie außerhalb der Kirche halten die Beratungsergebnisse des Synodalen Wegs für ein Zukunftsprogramm. Dass es denjenigen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften, welche all das längst realisiert haben, was hierzulande der Kirche „Zukunft sichern“ soll, jedenfalls nicht besser geht als der katholischen Kirche, ficht sie nicht an. Unbestritten ist, dass die Kirche, da sie „Sünder in ihrem eigenen Schoße“ umfasst, auch „stets der Reinigung bedürftig“ ist und den „Weg der Buße und Erneuerung“ zu gehen hat (Lumen gentium, Nr. 8).

Der Skandal des sexuellen Missbrauchs gibt der Kirche in der Tat Anlass, diesen Weg zu gehen. Die bohrende Frage: „Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten?“, die Kardinal Joseph Ratzinger bei seiner Meditation des Kreuzwegs am Kolosseum des Jahres 2005 aufgeworfen hatte, stellt sie immer wieder vor die Notwendigkeit zu Gewissenserforschung, Schuldbekenntnis und Reinigung. Auch wenn solcher Schmutz, gar noch reichlicher, in anderen gesellschaftlichen Realitäten auftritt, führt dies zu keiner Relativierung: Schuld bleibt Schuld, Sünde bleibt Sünde – auch dann, wenn andere sie gleichfalls auf sich geladen haben. Das Argument des „tu quoque“ entlastet nicht, zumal dann nicht, wenn eine Institution wie die Kirche danach strebt, in sich selbst und in ihren Gliedern die Heiligkeit Jesu Christi abzubilden und zur Geltung zu bringen.

„Strukturelle Sünde“: Alter Wein in neuem Schlauch

Nach der Lehre der Kirche sind Schuld und Sünde persönliche Kategorien. Diese Vorstellung wiederum ist für den modernen Menschen eine Zumutung. Das Dilemma, das Böse auch böse nennen zu wollen, ohne es aber einem konkreten Subjekt zuordnen zu müssen, das „Böses getan und Gutes unterlassen hat“, hat verschiedene Erklärungsmuster hervorgebracht: Die sogenannte „Befreiungstheologie“ hat schon im vorigen Jahrhundert das Konstrukt der „strukturellen Sünde“ erfunden. Die Protagonisten des Synodalen Wegs erklären den Skandal des sexuellen Missbrauchs mit „systemischen Ursachen“, deren Beseitigung – so ihre „Logik“ – das Übel künftig unmöglich machen soll. Beide Erklärungsmuster sind indes nur neuer Wein in alten Schläuchen: ein zeitgenössisches „aggiornamento“ des Sündenbocks des Alten Testaments (Lev 16,8-21).

Zur Erinnerung: Am jüdischen Versöhnungsfest wurden zur Sühne zwei Böcke herbeigeführt. Das Los entschied, welcher geschlachtet und Gott als Sündopfer dargebracht wurde. Dem anderen (erstmals von Luther „Sündenbock“ genannt) legte der Hohepriester beide Hände auf, um ihm so symbolisch die Sünden des Volkes aufzuladen. Dann wurde er in die Wüste getrieben.

Das alte Israel kam mit einem Sündenbock aus. Der Synodale Weg braucht deren drei: die „katholische Sexualmoral“ (die „weiterzuentwickeln“ sei), die „klerikalen Machtstrukturen“ (die es zu zwingen gilt) und natürlich der Zölibat. Alle drei Sündenböcke wurden dem Synodalen Weg durch die sogenannte MHG-Studie von 2018 zugetrieben, also von jener Forschergruppe von Psychologen, Psychiatern, Gerontologen und Kriminologen diverser universitärer Institute in Mannheim, Heidelberg und Gießen, welche im Auftrag der Bischöfe das Phänomen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker und (männliche) Ordensleute von 1946 bis 2014 untersuchte.

Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz DBK Kardinal Reinhard Marx und Bischof Stephan Ackermann stellen bei einer Pressekonferenz die MHG-Studie vor.
Foto: Friedrich Stark (imago stock&people) | Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz DBK Kardinal Reinhard Marx und Bischof Stephan Ackermann stellen bei einer Pressekonferenz die MHG-Studie vor.

Die „Empfehlungen“ der Studie, quasi der Gründungs-Mythos des Synodalen Wegs, beschränkten sich nun keineswegs auf die Aufarbeitung und Prävention von Missbrauchstaten. Vielmehr äußerten sie sich auch (auf Grundlage welcher Fachkompetenz?) zu Fragen der kirchlichen Lehre und Disziplin: Die „katholische Sexualmoral“ sei zu überdenken, „klerikale Machtstrukturen“ seien zu ändern, allein im Hinblick auf den Zölibat fielen die Äußerungen etwas vorsichtiger aus.

Behauptungen ohne faktische Grundlage

In keinem der drei Bereiche wurde (und wird) auch nur der Versuch unternommen, einen Kausalzusammenhang zu Fällen sexuellen Missbrauchs mit gesicherter wissenschaftlicher Methodik zu belegen. Er wird schlicht behauptet – aller faktischen Evidenz zum Trotz: In der Welt des Theaters, des Films und des Balletts ist die katholische Sexualmoral deutlich unterrepräsentiert, gleichwohl ist dort sexueller Missbrauch verbreitet („Me too“). Die evangelischen Landeskirchen kennen infolge des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen keinen Klerus und bleiben so von klerikalen Machtstrukturen verschont. Und doch kam und kommt es auch dort zu Fällen sexuellen Missbrauchs, bereits zwei leitende Geistliche weiblichen Geschlechts mussten wegen des unangemessenen Umgangs damit vorzeitig ihr Amt aufgeben.

Das Gros der Missbrauchsfälle ereignet sich im familiären Umfeld sowie in den Sportvereinen: Sind die Väter und Stiefväter, die ihre eigenen (Stief-)Kinder missbrauchen, zölibatäre Sonderlinge? Oder die Fußball-, Schwimm- und Turntrainer, die sich an ihren minderjährigen Schützlingen vergreifen, wie zuletzt jener Münchener Fußballtrainer, dem über 800 Missbrauchsfälle zu Last gelegt werden? Wie lässt sich der verstörende Fall des Arnulf Zitelmann, über den die ZEIT jüngst berichtete, mit den Parametern jener „systemischen Ursachen“ erklären?

Im alten Israel wurde der Sündenbock in die Wüste gejagt. Die heutige Wüste ist die öffentliche Meinung – ihr werden die vorgeblichen „systemischen Ursachen“ zum Fraß vorgeworfen: bewusst missverstanden, lächerlich gemacht, diskreditiert. Auf dem Marktplatz der öffentlichen Meinung begegnet dann ein anderes Requisit der Geschichte, aus dem „finsteren“ Mittelalter (über das man sich sonst aufgeklärt zu erheben pflegt): der Pranger. Er hat den geschützten Raum der Heimatmuseen unserer Städte verlassen und zählt mittlerweile zum Instrumentarium innerkirchlicher Vergangenheitsbewältigung.

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Gewiss muss es ein Straftäter hinnehmen, dass seine Taten öffentlich werden. Doch auch den Täter schwerster Delikte stellt die Rechtsordnung nicht rechtlos, wahrt seine Persönlichkeitsrechte und bemüht sich um seine Resozialisierung. „Shaming Punishments“, wie sie seit geraumer Zeit in den USA wieder in Mode sind, wären hierzulande schlicht unzulässig. Was aber, wenn gar nicht feststeht, ob tatsächlich eine Straftat begangen worden ist? Das Gros der Fälle sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen liegt weit in der Vergangenheit. Nach weltlichem Strafrecht ist regelmäßig Verjährung eingetreten. Zahlreiche der vermeintlichen Täter sind verstorben oder infolge Krankheit und Demenz nicht vernehmungs- und verhandlungsfähig, Zeugen und sonstige Beweismittel zumeist nicht vorhanden. Das Recht stößt hier an seine Grenzen. Die Unschuldsvermutung, wie sie im 13. Jahrhundert der französische Kardinal Jean Lemoine prägnant formulierte („item quilibet presumitur innocens nisi probetur nocens“), rechnet seit Jahrhunderten zum ehernen Bestand jeder rechtsstaatlichen Ordnung.

Gegen Grundsätze von Rechtsstaat und christlicher Moral

Ausgerechnet die Kirche, deren mittelalterlichen Juristen gegenüber den archaischen „Beweis“-regeln des damaligen weltlichen Rechts Quantensprünge an Rechtskultur zu verdanken sind, flüchtet sich heute in untaugliche, weil parteiische Grundannahmen („Sicht der Betroffenen steht im Mittelpunkt“) und diese lediglich ratifizierenden „Verfahren“: Seit einigen Jahren praktizieren die deutschen Diözesen ein sogenanntes „Verfahren zur Anerkennung des Leids“, welches Personen, die sich als Opfer sexuellen Missbrauchs offenbaren, die Möglichkeit finanzieller Leistungen eröffnet. Die zur Entscheidung berufene „Unabhängige Kommission“ entscheidet ausschließlich nach Aktenlage, und zwar aufgrund der Angaben des Antragstellers. Dieser wird weder persönlich angehört (was unabdingbar wäre, um seine Glaubwürdigkeit einschätzen zu können), noch kann die Kommission eigene Recherchen anstellen. Ihre Aufgabe besteht schlicht darin, die Plausibilität der Angaben des Antragstellers zu beurteilen.

Für die Zubilligung einer Geldleistung mag ein solches Vorgehen angehen. Auf einer solchen Grundlage aber verstorbene Priester – wie in einer Diözese geschehen – im Internet mit Klarnamen und Biographie als „mutmaßliche Täter“ zu benennen, verstößt gegen elementare Grundsätze des Rechtsstaats (von denen der christlichen Moral erst gar nicht zu reden). Der Gläubige weiß, dass die Wahrheit frei machen wird (Joh 8,32). Wo sie in dieser Welt nicht (mehr) zu erforschen ist, muss er es hinnehmen – und darf nicht an ihre Stelle den Verdacht setzen. Die ganze Wahrheit wird einst der offenbar machen, der selbst die Wahrheit ist: Er, der richten wird die Lebenden und die Toten. Im demütigen Vertrauen auf Ihn liegt für den Gläubigen die wahre Zukunft.

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