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"Adam, wo bist Du?"

Der frühere Apostolische Nuntius in Deutschland, Erwin Josef Ender, kritisiert den Synodalen Weg und das Niveau der Diskussion.
Erzbischof Ender zum "Synodalen Weg"
Foto: Nicolas Armer (dpa) | Mit der Kirche leben, sie lieben und sie mitgestalten kann nur, wer in ihr Christus findet und Gott begegnet, meint Erzbischof Ender.
Erzbischof Erwin Josef Ender
Foto: KNA | Erzbischof Erwin Josef Ender war von 2003 bis 2007 Apostolischer Nuntius in der Bundesrepublik Deutschland.

In den Lesungen aus dem Alten Testament begegnet uns häufig die Klage: „Wieder taten die Israeliten, was Gott missfiel“ (Ri 13,1). Wir erfahren auch die Reaktion der Propheten darauf. Sie klagten an und ermahnten leidenschaftlich zur Umkehr. Es gibt meines Wissens keinen Propheten, der für die Kluft zwischen dem Anspruch Gottes und dem Verhalten der Menschen Gott selbst verantwortlich gemacht hätte, als sei Gott aus der Zeit gefallen und hinter den Wünschen der Menschen zurückgeblieben. Heute ist dies der vorherrschende Trend, wenn man auf die offensichtliche Unvereinbarkeit der Lebensweise, Wünsche und Forderungen des „modernen“ Menschen mit manchen Teilen der Glaubens- und Sittenlehre der Kirche hinweist.

Ich stelle mit Verwunderung fest, dass in der angeregten Diskussion um den „Synodalen Weg“ kaum jemand auch mal eine andere, wahrscheinlichere Erklärung für die Entfremdung zwischen dem heutigen Menschen und der Kirche ins Gespräch bringt. Dass nämlich nicht Gott und die Kirche sich vom Menschen entfernt haben, sondern umgekehrt – wie schon Alten Bund – sich die Menschen von Gott und der Kirche entfernt haben und sich weiter entfremden. In Scharen kehren sie der Kirche den Rücken und laufen davon. Immer mehr Menschen leben, als wenn es Gott nicht gäbe. Darum ist der Ruf Gottes nach dem in Sünde gefallenen und flüchtenden Menschen im Paradies heute so aktuell wie am Anfang: „Adam, wo bist du?“ (Gen 3,9).

Wer spricht heute noch von Bekehrung?

Christus hat am Ostermorgen seine Apostel – und so auch ihre Nachfolger in allen künftigen Zeiten – mit den Worten beauftragt: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch!“ (Joh 20,21). Und sein Vater sandte ihn, wie er selbst ausdrücklich beteuert, „zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“ (Lk 19,10). Darum ist es die vorrangige Aufgabe der Hirten der Kirche, dieses Rufen und Suchen Gottes nach den Flüchtenden und Irrenden auch in der Kirche und der Welt von heute hörbar und wahrnehmbar zu machen. Sie haben die Aufgabe, den fliehenden Menschen nachzulaufen, nicht um sie auf Irrwegen zu bestätigen, sondern um sie zur Umkehr und Rückkehr zu bewegen. Ist es nicht verwunderlich, dass man den Aufruf zur Bekehrung heute kaum oder gar nicht mehr hört? „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (vgl. Mk 1,15): Jesus selbst hat so am Anfang seines öffentlichen Wirkens den Auftrag seiner Sendung erklärt.

Mit Freude lese ich zurzeit wieder die wichtigsten Dokumente des letzten Konzils. In diesen Dokumenten ist dargestellt und zusammengefasst, was die Kirche in den zweitausend Jahren ihrer Geschichte in den Heiligen Schriften, ihren Heiligen, Lehrern und Konzilien verbindlich über sich und die Welt ausgesagt hat und für unsere heutige Zeit fruchtbar zu machen sucht. Es ist noch nicht einmal 60 Jahre her, dass diese authentischen und verbindlichen Selbstaussagen der Kirche über sich und ihre Sendung in der Welt von heute erfolgt sind. Doch die Aussagen dieses Konzils werden kaum noch wahrgenommen.

Wenn man manchen Meldungen in den Medien glauben soll, steht ein „Umbruch“ wie zur Zeit der Reformation bevor. Ohne Rücksicht auf Schrift und Tradition – den eigentlichen Offenbarungs- und Glaubensquellen – soll sich die Kirche gleichsam neu erfinden. Ich habe die Entwürfe für die vier Foren des „Synodalen Weges“ gelesen und bin erschrocken, auf welchem Niveau sich die heutige Diskussion bewegt. Schrift und Tradition scheinen von der sogenannten „modernen“ Theologie und den Humanwissenschaften weitgehend verdrängt und durch diese ersetzt zu werden. Kein Vergleich mit der Glaubensperspektive der Konzilstexte. Es verhält sich wie mit der Betrachtung eines bunten Kirchenfensters: statt von innen betrachtet man es nur noch von draußen. So versteht man das Dargestellte und seinen Sinngehalt kaum noch. Der Entwurf für das Forum zur Sexualität erinnert mich an den Ausspruch eines hohen Vertreters des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), der sinngemäß meinte: Rom solle für einige Zeit mal schweigen; wir werden dann schon eine akzeptable Sexualmoral zustande bringen…

Die Mahnungen des Apostels und die 68er

Der heilige Paulus mahnt in seinem Römerbrief: „Gleicht euch nicht dieser Welt an, sondern wandelt euch und erneuert euer Denken, damit ihr prüfen und erkennen könnt, was der Wille Gottes ist: was ihm gefällt, was gut und vollkommen ist“ (Röm 12,2). Das sollte, wenn uns das Wort Gottes noch etwas bedeutet, das Hauptanliegen eines jeden Erneuerungsprogramms sein: Sich nicht der Welt anzugleichen, sondern zuerst sich selbst, sein Denken und Tun im Geiste Jesu Christi zu erneuern. Es kann nicht nur darum gehen, zu hören, was die Menschen von der Kirche erhoffen oder gar fordern, sondern vor allem darum, zu prüfen und zu erkennen, was Gott von uns, der Kirche und den Menschen erwartet. Nicht, was der „Welt“ und den Menschen, angenehm und wünschenswert erscheint, ist der Maßstab der Erneuerung, sondern Gottes Wille. Das, was in den Augen Gottes „gut und vollkommen“ ist!

Ich habe hingegen den Eindruck, dass inzwischen auch in den Reihen der Kirche der „Geist von 68“ Eingang gefunden hat und hier Heimatrecht beansprucht. Alles soll hinterfragt und dann nach eigenem Gutdünken neu formuliert und zurechtgerückt werden. In den Verlautbarungen und der Berichterstattung über das kirchliche Geschehen in Deutschland muss man schon mit der Lupe suchen, um jemanden zu finden, der den Mut hat, dem allgemein verbreiteten Trend „drastischer Kirchenkritik“, die bei vielen leider oft wohlwollenden Applaus findet, mit einem besonnenen und kritischen Wort offen entgegenzutreten. Es bedurfte eines mir unbekannten Laien, der in einem KNA-Beitrag einmal den guten Rat gab, man solle doch von der Kirche nicht nur Negatives, sondern auch mal etwas Positives sagen.

Das Gesicht der Kirche ist durch die zu Recht beklagten und zu verurteilenden Missbrauchsfälle entstellt. Aber ich bin überzeugt, dass viele von denen, die in die heute weithin wohlfeile Kritik an der Kirche genüsslich einstimmen und applaudieren, mitschuldig sind am schlechten Erscheinungsbild der Kirche in unseren Tagen. Unter ihnen auch manche Theologen, Priester und sogar Bischöfe.

Erst kürzlich brachte eine „Kirchenzeitung“ unter der vielsagenden Überschrift „Drastische Kirchenkritik“ in Großformat und mit Autorenporträt ihren Lesern ein soeben erschienenes Buch eines ihrer Priester empfehlend zur Kenntnis. Dabei vergaß sie auch nicht, gleich genau anzugeben, wo dieses gekauft werden kann und was es kostet. Je „drastischer“ jemand die Kirche kritisiert, umso mehr Echo und Raum findet er in den Medien – auch in manchen kirchlichen. Während über „Maria 2.0“ bei jeder sich bietenden Gelegenheit ausführlich über Forderungen und Aktionen berichtet wird, ist „Maria 1.0“ kaum eine kurze Notiz wert. Selbst in Gottesdiensten werden Predigten, die Spott und Häme über die sogenannte kirchliche „Obrigkeit“ schütten, mit Lob und Applaus bedacht; im Gegensatz zu manch anderen, die eine solche Ermutigung wirklich verdienten.

Mut, sich zum Schmerzensmann zu bekennen

Durch solches Verhalten schaden wir uns selbst und der Kirche am meisten. So sollte es nicht verwundern, wenn immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren. Die Kirche ist seit ihrer Gründung unvermeidlich immer zugleich sündig und heilig („casta mereterix“). In ihr wachsen Weizen und Unkraut bis zur Ernte gleichzeitig miteinander. Heute entsteht der Eindruck, als ob wir von „unserer“ Kirche selbst wenig überzeugt sind und nicht voll zu ihr stehen. Dies erinnert mich an Christus vor Pilatus. Auch ihm waren die Freunde abhanden gekommen (auch manche „Verantwortliche“ unter ihnen). Unter den Geiselwunden und der Dornenkrone erkennen sie den verborgenen König nicht mehr. Es fehlt der Mut, sich zu ihm auch als gedemütigtem und entstelltem Schmerzensmann zu bekennen und für ihn einzustehen. Selbst die verächtliche Pilatus-Frage hören wir heute aus vieler Munde: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18,38)

Strukturen entfachen keine Glaubensfreude

Auch noch so gut gemeinte „Strukturreformen“ werden diesen herabsetzenden und destruktiven Umgang mit der Kirche nicht zu heilen vermögen, wenn Reformbemühungen nicht bei den Fundamenten des Glaubens beginnen. Darum halte ich den von den Oberhirten aus Köln und Regensburg vorgeschlagenen alternativen Entwurf für den „Synodalen Weg“ für ehrlicher und erfolgversprechender. Bei diesem Vorschlag hatte es sich um ein neues und damit „alternatives“ Arbeitsprogramm gehandelt, das jedoch leider von der Mehrheit der Bischöfe abgelehnt wurde.

Mit der Kirche leben, sie lieben und sie mitgestalten kann nur, wer in ihr Christus findet und Gott begegnet. Darum muss das Hauptanliegen jeder wahren Erneuerung sein, die Anwesenheit Christi und Gottes in der Kirche und durch sie mit neuer Glaubensfreude zu entdecken und zu bezeugen. Bevor man sich über diejenigen beklagt, die sich entschlossen haben, ihre Kirchensteuer nicht mehr zu zahlen, und so ihre Kirchenmitgliedschaft aufkündigen, sollte die ganze Aufmerksamkeit denen gelten, deren Glaube schon seit geraumer Zeit erkaltet ist und die schon länger weder am Sonntagsgottesdienst (90 Prozent) noch am sonstigen Leben der Kirche teilnehmen, weil sie Gott und der Kirche schon lange entfremdet sind.

Wem Christus nichts mehr bedeutet und zu sagen hat, wird auch auf die Kirche leicht verzichten und seine eigenen Wege gehen. Vorwiegend strukturelle Veränderungen im Leben der Kirche werden kaum jemand motivieren und dazu bewegen können, seinen Glauben und seine Liebe zu Gott in der Kirche wieder zu entdecken und neu zu leben. Der Glaube kommt vom Hören und nicht vom Debattieren, Kritisieren und Programme schreiben. Darum ist die Verkündigung der Frohbotschaft und ein gelebtes Glaubenszeugnis, eine überzeugende Evangelisierung in Wort und Tat, der einzige angezeigte Weg in die Herzen der Menschen.

Hintergrund:

In einem historischen Akt hat sich Papst Franziskus mit einem Brief an alle Katholiken in Deutschland gewandt. Anlass der Schreibens, das am 29. Juni 2019 veröffentlicht wurde, war der Synodale Weg der katholischen Kirche. Mit Blick auf die „Erosion" und den „Verfall des Glaubens“ in Deutschland ruft Franziskus in seinem Schreiben eindringlich zu Bekehrung und Evangelisierung auf und mahnt, in der Einheit mit der Weltkirche zu bleiben. Die Verkündigung des Glaubens sei der erste und eigentliche Auftrag der Kirche. Dies müsse auch das Ziel eines Synodalen Weges sein, betont der Heilige Vater.

Anstelle einer Fokussierung auf Strukturfragen fordert der Papst, der Evangelisierung im Leben der Kirche oberste Priorität zu geben. Wie bereits Benedikt XVI. warnt auch Franziskus vor der Gefahr der Verweltlichung der Kirche. „Ohne neues Leben und echten, vom Evangelium inspirierten Geist“, ohne „Treue der Kirche gegenüber ihrer eigenen Berufung“ werde jede neue Struktur in kurzer Zeit verderben, so der Pontifex.

Der Brief des Papstes hatte in der katholischen Kirche Deutschlands für unterschiedliche Reaktionen gesorgt. So gab es im Zuge des Schreibens Forderungen nach einem Neustart des „Synodalen Weges“. Die Weichen seien falsch gestellt, beklagte etwa der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer. Die Spitzen von Bischofskonferenz und ZdK sahen sich durch den Brief des Papstes ermutigt, auf dem „Synodalen Weg“ weiter voranzuschreiten. Der Kölner Erzbischof, Kardinal Woelki, und der Regensburger Bischof Voderholzer legten schließlich einen alternativen Entwurf zur Satzung des „Synodalen Weges“ vor.

Der Alternativ-Entwurf hob den Primat der Neuevangelisierung, die Beachtung des „sensus ecclesiae“ und die Rücksicht auf die Einheit mit der Weltkirche hervor, um den Forderungen des Papstbriefes Rechnung zu tragen. Bei einer Sitzung des Ständigen Rates im August stimmten die Deutschen Bischöfe über den Alternativ-Entwurf ab. 21 stimmten dagegen, drei Bischöfe stimmten dafür, und drei weitere enthielten sich der Stimme.

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