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Warum wir „hörende Herzen“ brauchen

Sich an die Stelle eines anderen zu denken, reinigt von Egoismen und schärft den Blick für das Gemeinwohl und das Gute.
Weitere Proteste der Letzten Generation für Klimaschutz
Foto: Kay Nietfeld (dpa) | Der Handabdruck eines Klimaaktivisten ist auf einer Straße im Berliner Bezirk Schöneberg zu sehen.

Ob es um den Schutz menschlichen Lebens, den Klimawandel oder die Chancen und Risiken „Künstlicher Intelligenz“ geht. Immer öfter stehen sich hier wie andernorts gegensätzliche Ansichten und Interessen scheinbar unversöhnlich gegenüber. So als handele es sich um unaufhebbare Sichtweisen und Wünsche, zwischen denen zu vermitteln aussichtslos und über die sich zu verständigen vergeblich sei.

Als Folge davon wird der jeweils Andersdenkende ebenso schnell wie leichtfertig als „Feind“ betrachtet, den es zu bekämpfen und zu besiegen gelte; richten sich die eingesetzten Mittel danach, wie zuverlässig sie Erfolg versprechen.

Ein Vorschlag, der des Nachdenkens wert ist

Man braucht kein Prophet zu sein, um zu wissen, dass solche Strategien allenfalls kurzfristig funktionieren. Auf Dauer mehren sie Ablehnung, Verachtung oder gar Hass, die Menschen, eingespannt in derartige Szenarien, füreinander zu entwickeln pflegen. Gibt es also alternative Wege, die Verständigung ermöglichen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, statt zu sprengen zu fördern versprechen? Ja, die gibt es. Einen bewarb auf vergangenen Samstag der Trierer Philosoph Christoph Böhr. Unter Rückgriff auf Immanuel Kants Spätschrift „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“, empfahl er, eigene Ansichten und Positionen zu überprüfen, in dem man sich „in die Stelle eines jeden anderen denke“.

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Ein Vorschlag, der des weiteren Nachdenkens wert ist. Was würden passieren, wenn Leugner des Klimawandels sich an die Stelle von Klimaaktivisten dächten und diese an die von Polizisten? Was, wenn Abtreibungsbefürworter sich an die Stelle ungeborener Kinder dächten, Wunscheltern an die von Leihmüttern oder Befürworter des assistierten Suizids an die von Palliativmedizinern und des Pflegepersonals? Was, wenn die Entwickler „Künstlicher Intelligenz“ sich an die Stelle von Schülern dächten, die vor der Wahl stehen, selbst ein Referat zu erarbeiten oder ChatGPT zu nutzen? Natürlich wäre die Welt nicht gleich eine andere, lösten sich widerstreitende Positionen nicht in Luft auf. Aber sicher erübrigten sich manche Streitpunkte sofort. Auch der Stil von Auseinandersetzungen dürfte sich merklich verändern und verbessern. Das wäre auch gar kein Wunder.
Denn der Mensch ist, wie schon Aristoteles wusste, ein „zoon politikon“, ein Gemeinschaftswesen. Deshalb ist auch seine Vernunft, wie Kant notierte, nicht dazu da, sich selbst zu isolieren.

Den Blick für das Gemeinwohl und das Gute schärfen

Das „hörende Herz“, um das der junge König Salomon Gott bei seiner Amtsübernahme bat und das auch Papst Benedikt XVI. 2011 bei seiner Rede vor dem Deutschen Bundestag bewarb, weil er in ihm eine Vernunft am Werk sah, die weiter reicht, als die bloß instrumentelle der Moderne, ist keineswegs darauf beschränkt, das Wort Gottes aufzunehmen.

Es kann sich auch Mitmenschen zuwenden, die sich jenseits der eigenen Blase aufhalten und sperrige oder auf andere Weise herausfordernde Positionen vertreten. Der Kunstgriff „sich an die Stelle eines jeden anderen zu denken“, erfordert weder die Aufgabe eigener Überzeugungen noch nötig er zu Kompromissen.

Aber er reinigt von Egoismen und schärft den Blick für das Gemeinwohl und das Gute. Etwas, das man nicht zuletzt auch der von der Bundesregierung berufenen „Kommission für selbstbestimmte Reproduktion“ wird wünschen müssen.

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Stefan Rehder Aristoteles Christoph Böhr Deutscher Bundestag Gemeinwohl Immanuel Kant

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