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Olaf der Getriebene

Seit einem Jahr ist Olaf Scholz Bundeskanzler. An ihm zeigt sich ein Grundproblem der Politik: Der Gestaltungsspielraum wird immer enger.
Olaf Scholz ist seit einem Jahr im Amt.
Foto: IMAGO/Bernd Elmenthaler (www.imago-images.de) | Seit einem Jahr ist Olaf Scholz im Amt.

„Die Getriebenen“ hat Robin Alexander sein Buch genannt, in dem er beschreibt wie die deutsche Politik auf die Flüchtlingskrise reagiert hat. Die politische Lage ist der Motor, sie treibt die Politiker vor sich her. Das ist die Grundthese des Buches – mittlerweile kann man sie auf die Politik insgesamt anwenden. Ob Energie, Klima, Pandemie und natürlich der russische Angriffskrieg. Die Krisenphänomene werden immer komplexer und der Gestaltungsspielraum der Politiker immer kleiner. Olaf Scholz, der seit einem Jahr im Kanzleramt sitzt, ist ein typischer Exponent dieser Zeit. Und schließt damit direkt bei seiner Vorgängerin an.

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Die Urmutter dieser Kanzlerschaft

Denn Angela Merkel ist so etwas wie die Ur-Mutti dieser Ära. Sie behauptete zwar von sich, hier ganz dem Bild der analytischen Physikerin folgend, als Kanzlerin sei es ihr Ziel, vor die Lage zu kommen. Also zu handeln, bevor nicht zu umgehende Zwänge zum Handeln zwingen. Das suggerierte: Ich bin souverän. Ich lass mich nicht treiben, sondern treibe die Anderen vor mir her. Aber dahinter steckte viel Inszenierung: Merkels eigentliche Taktik bestand gerade darin, mit der Lage, so wie sie nun einmal sei, zu argumentieren. Alternativlos – das wollte Merkel sein. Gerade hat sie gegenüber der „Zeit“ erklärt, „Wir schaffen das“  sei das generelle Motto ihrer Politik gewesen. Aber ihr „Wir schaffen das“ hatte nie etwas Utopisches, es zielte eher darauf ab, irgendwie die Aufgaben des Tages abzuarbeiten und gleichzeitig den Status quo möglichst lange aufrecht zu halten. Das ist – Merkel-Fans, aber auch Merkel-Kritiker mag es entsetzen –  vom Grundansatz her erstaunlich konservativ. Merkel gelang es aber über die Jahre, ein Image als „Weltstaatsfrau“ zu entwickeln, das quer zu dem von der „getriebenen Kanzlerin“ stand.

Sasses Woche in Berlin
Foto: privat / dpa | Woche für Woche berichtet unser Berlinkorrespondent in seiner Kolumne über aktuelles aus der Bundeshauptstadt.

Die Legende der Kanzlerin 

Und genau da liegt der Unterschied zwischen Merkel und Scholz. Die Kanzlerin konnte sich auf ihre Verbündeten in den Medien verlassen, die fleißig an der Legende von der „Über-Kanzlerin“ strickten. Auf solchen Rückhalt kann Olaf Scholz nicht zurückgreifen. Ein zweiter Punkt: Merkel regierte größtenteils in „Großen Koalitionen“. Dem Kanzler steht aber mit der Union eine große Oppositionspartei gegenüber. Anders als Merkel, die ihre Partei im Griff hatte, muss Scholz auch immer noch mit Querschlägern von seinen linken Genossen rechnen.

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Zudem gibt es Charisma-Konkurrenz in der Regierung selbst: Anders als ursprünglich droht die dem Kanzler nicht von Robert Habeck. Der hat genug Probleme, die Energiekrise irgendwie zu meistern. Annalena Baerbock ist es, die auf die Charisma-Tube drückt. Sie setzt sich in Szene als diejenige, die laut und deutlich wird, wenn es darum geht, den Despoten dieser Welt Paroli zu bieten. Scholz erscheint daneben als farblos und ideenlos.

Kurz: Olaf Scholz ist in einer schwierigen Situation. Allerdings: Der Kanzler ist nicht der Mann, der sich leicht unterkriegen lässt. Sich vollkommen treiben zu lassen, wäre auch nicht wirklich hanseatisch.

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