In der Ukraine gibt es ein neues Wort: "Scholzit". Zu Deutsch "Scholzen" und bedeutet: viel versprechen, wenig halten. Den Ruf des Zögerers und Zauderers hat sich der deutsche Bundeskanzler seit Beginn des russischen Angriffskriegs hart erkämpft. Statt voranzuschreiten und einen politischen Kurs zu bestimmen, hinkt Deutschland seinen Bündnispartnern in EU und NATO hinterher. Zuerst hieß es, die Pipeline Nord Stream 2 sei ein "privatwirtschaftliches Vorhaben". Damit schüttelte der frischgebackene Bundeskanzler Olaf Scholz die Verantwortung für das umstrittene Projekt von sich ab. Mit der größer werdenden Drohkulisse Russlands konnte er es sich aber nicht mehr ganz so leicht machen.
Doch lange herrschte Unklarheit, ob die Pipeline auch im Falle eines Überfalls ans Netz gehen würde. Die Begründung: Man dürfe sich von Russland nicht in die Karten schauen lassen. Zwei Tage vor Beginn des russischen Angriffskriegs dann doch: Die Zertifizierung der Gas-Pipeline wurde gestoppt. Vor und wieder zurück. Dann die Diskussionen über Sanktionen gegen Russland. Auch hier blockte Deutschland zunächst, das Land vom Zahlungssystem "Swift" auszuschließen. Die Befürchtung: Das könnte die eigene Energieversorgung gefährden. Schließlich stimmte es doch zu. Hin und her.
„Gerade durch das Nicht-Entscheiden-Wollen begibt man sich in die Unfreiheit,
denn wer nicht selbst Entscheidungen trifft und frei seine Zukunft bestimmt,
wird zum Opfer äußerer Umstände“
Schließlich das große Ringen um Waffenlieferungen: Zu Beginn des Krieges noch das Festhalten der Regierung am deutschen Kurs: Keine Waffenlieferungen in Kriegsgebiete. Stattdessen wurden 5000 Helme und Schutzwesten geschickt. Deutschland wurde damit zum internationalen Gespött. Dann der große Kurswechsel: Scholz rief die Zeitenwende aus und genehmigte damit auch die Lieferung tödlicher Waffen. 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Stinger-Raketen versprach die Regierung der Ukraine. Der neue Kurs: Keine schweren Waffen zu liefern. Immer die Befürchtung im Hintergrund, dadurch als aktive Kriegspartei gesehen zu werden unter dem Vorwand, man könne gar nichts an schweren Waffen liefern, die Bedienung des Geräts sei zu komplex. Doch auch das wurde wenig später revidiert.
50 von der Bundeswehr ausgemusterte Panzer stellte die Bundesregierung zur Verfügung, ukrainische Soldaten konnten in Deutschland nun doch ausgebildet werden. Wieder: Vor und Zurück. Und zuletzt das Hin und Her wegen der Reise nach Kiew. Über einen Monat nach der Debatte über die Ablehnung eines Besuchs des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier, die für den Kanzler eine große Hürde war, die Reise nach Kiew selbst auf sich zu nehmen, nun doch: hin. Begründung für das Zögern: Er werde sich "nicht einreihen in eine Gruppe von Leuten, die für ein kurzes Rein und Raus mit einem Fototermin was machen", sondern wenn, "dann geht es immer um ganz konkrete Dinge". Zwei konkrete Dinge sagte Scholz bei dem Besuch im EU-Muskelpaketformat, bestehend aus dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem italienischen Ministerpräsidenten Mario Draghi und dem deutschen Bundeskanzler, selbst nun der Ukraine immerhin zu: "Deutschland ist für eine positive Entscheidung zugunsten der Ukraine."
In seiner Selbstwahrnehmung versteht Scholz sich als besonnener Mensch
Später dann in einer Videobotschaft sogar nochmal klarer: Ein EU-Beitrittskandidatenstatus sei notwendig für die Ukraine. Zweite Zusage: Das moderne Flugabwehrsystem Iris-T zu liefern, "das eine ganze Großstadt gegen Luftangriffe verteidigen kann", so Scholz, sowie das Spezialradar Cobra. Die Zusagen unterstrich er mit seinem Mantra "Deutschland unterstützt die Ukraine massiv." Was von anderen als Zögern und Zaudern wahrgenommen wird, verkauft Scholz selbst großzügig als Besonnenheit. In der neuen Sendung "Was nun, Herr Scholz?" des ZDF verteidigte er zuletzt seinen defensiven Führungsstil damit, dass Führung gerade nicht darin bestehe, "jedem, der laut ruft und falsche Argumente verwendet", nachzugeben.
Die Ukraine scheint das auch nach dem Besuch des Bundeskanzlers anders wahrzunehmen. So forderte der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in der Sendung von Anne Will erneut Waffen und betonte, dass er sich mehr Unterstützung von Deutschland wünschen würde. Besonders Artillerie, Luftabwehr- und Raketensysteme würde die Ukraine derzeit benötigen, weil die russischen Truppen militärisch weitaus überlegen seien.
Große Versprechen, keine Einlösung
Den Vorwurf, Deutschland liefere zu wenige Waffen und zu spät, will die Bundesregierung wohl nicht länger auf sich sitzen lassen: Auf ihrer Webseite hat sie nun eine Liste veröffentlicht, was an Material und Waffen bereits an die Ukraine geliefert wurde und was noch geliefert werden soll. Darunter sieben Stück der lange ersehnten Panzerhaubitzen 2000, sowie 500 Fliegerabwehrraketen Stinger, 2700 Fliegerfäuste Strela und 50 Bunkerfäuste.
Zugleich macht sich aber immer mehr Unmut über Olaf Scholz Führungsstil bemerkbar. Selbst in den eigenen Reihen ertönt statt der bisherigen verbalen Schulterklopfer nun Kritik. So forderte zuletzt SPD-Chef Lars Klingbeil, dass Deutschland Führung übernehmen müsse. "Deutschland steht immer mehr im Mittelpunkt, wir sollten diese Erwartung, die es an uns gibt, erfüllen", sagte Klingbeil in einer Grundsatzrede auf einer Konferenz der Friedrich-Ebert-Stiftung. "Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem." Das Land habe sich in den letzten Jahrzehnten ein hohes Maß an Vertrauen erarbeitet, mit dem aber auch eine Erwartungshaltung einhergehe.
Jeder macht so sein Ding - Führung geht anders
Auch bei den Koalitionspartnern fällt das Lob nicht ganz so großzügig aus wie von Scholz für Scholz. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), forderte einen klaren Kurs des Bundeskanzlers: "Er hat die Richtlinienkompetenz. Er muss jetzt klar sagen, was er will. Und dann können die Ministerien auch loyal im Kabinett abgestimmt handeln. Jetzt macht jeder so sein Ding. Und das geht natürlich nicht." Auch unter den Bündnispartnern macht sich Unmut über den deutschen Schlingerkurs breit: Der frühere Nato-Generalsekretär, Anders Fogh Rasmussen, hat den zurückhaltenden Kurs Deutschlands angesichts des Ukraine-Kriegs kritisiert: Die Bundesregierung sei "zu zögerlich bei der Lieferung schwerer Waffen und bei der Verhängung von Sanktionen".
Polens Vize-Außenminister, Piotr Wawrzyk, sagte gar, dass Deutschland das Land in der EU sei, "das die Kriegsführung in der Ukraine am schwierigsten macht". Auch die estnische Ministerpräsidentin, Kaja Kallas, äußerte, dass es in Europa viel Enttäuschung über den Kurs der Bundesregierung gebe. Der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba warf Deutschland bei seinem Besuch in Berlin "unbeholfene Entscheidungen" vor. Sie alle fordern eins von Deutschland: Führung.
Emotionale Ablehnung des Begriffs "Führung", blockiert
Aber Führung hat in Deutschland keinen guten Ruf. Allein das Wort auszusprechen, fühlt sich verboten an. Zu sehr wird es mit einem autoritären Führungsstil in Verbindung gebracht, den man mehr als alles andere vermeiden will. Das "Nie wieder" ist fest in den Köpfen verankert. Nie wieder Krieg, nie wieder Gewalt, nie wieder Unterdrückung und Diskriminierung. Soweit so gut. Das Problem: Allein Werte zu formulieren, für die man als Gesellschaft einsteht, eine Vision, für die man kämpft, gilt inzwischen als diskriminierend. Denn durch klare Werte grenzt man sich von anderen Weltanschauungen ab, darin wittert man alles, was man nie wieder will: Unterdrückung, Gewalt, Krieg.
Doch wer kein klares Ziel vor Augen hat, der irrt orientierungslos in der Gegend umher. Die einzigen Leitbegriffe unserer Gesellschaft derzeit: Vielfalt und Toleranz. Gegenüber allem und jedem. Das Ergebnis: radikalen Gruppierungen wird Raum gegeben, die demokratische Gesellschaft zu unterwandern und gerade das zu bedrohen, wofür jede Demokratie eigentlich steht: Gleichberechtigung, Meinungsfreiheit und Pluralismus. Orientierung suchende Bürger fühlen sich von solchen Gruppierungen aber mehr angesprochen als von der Politik, denn dort gibt es klare Leitlinien, was gut und was schlecht ist, dort bekommen die Menschen Führung.
Um zu wissen was zu tun ist, muss man wissen, wo man hin will
Doch wie kann ein konstruktiver Führungsstil seitens der Politik aussehen? Zunächst einmal muss sich Deutschland wieder bewusst werden, wohin es sich entwickeln will, nur dann kann es eine zielstrebige Politik betreiben.
Alle Visionen nützen aber nichts, wenn man sie nicht in die Tat umsetzt. Gute Führung zeichnet sich auch dadurch aus, Mut zum Handeln zu haben. Gerade durch das Nicht-Entscheiden-Wollen begibt man sich in die Unfreiheit, denn wer nicht selbst Entscheidungen trifft und frei seine Zukunft bestimmt, wird zum Opfer äußerer Umstände.
Wer handelt, macht auch Fehler. Eine gute Führungskraft steht zu diesen und übernimmt Verantwortung dafür. Fehler lassen einen immer schlecht aussehen, aber sind immer noch besser als Unentschlossenheit, weil die anderen dann wenigstens wissen, womit sie es zu tun haben. Ein unentschlossener Partner hingegen ist unberechenbar und gefährdet deswegen durch Unzuverlässigkeit langfristig Bündnisse.
Demut im Ringen um den richtigen Kurs
Zuletzt setzt gute Führung auch Demut voraus. Nur wer weiß, dass er nicht unfehlbar ist, dem geht es nicht darum, lediglich die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern ringt in der Auseinandersetzung mit anderen Positionen um das Erkennen der Wahrheit. Nur wer sich nicht selbst für das Maß aller Dinge hält, sondern für ein höheres Ziel kämpft, das genauso gut ein anderer erreichen könnte, weiß, wann es im Interesse des Ziels besser ist, Führung abzugeben. Deswegen sind Berater, die einem den Spiegel vorhalten und auch die hässlichen Seiten vorführen, wichtig für jede Person, die Entscheidungen trifft.
Seine Bündnispartner haben Olaf Scholz den Spiegel vorgehalten und klar gezeigt, dass sein Auftreten unentschlossen und zögerlich wirkt. Die Frage ist: Wird die ausgerufene Zeitenwende wirklich eine sein? Wird Deutschland lernen, Führung zu übernehmen in der EU, in der NATO, aber auch und vor allem im eignen Land? Seinen Besuch in der Ukraine schloss Olaf Scholz mit den Worten: "Die Ukraine soll leben – Slava ukraini ." Diesen Worten muss der Kanzler durch Taten nun Leben einhauchen. Damit die Ukraine leben kann, braucht sie aber Bündnispartner, die zu ihrer Unterstützung entscheidende Schritte gehen ohne vor und zurück.
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