Logo Johann Wilhelm Naumann Stiftung Interview mit US-Experten

Michael Hochgeschwender: „Biden hat konservativen Katholiken nichts zu bieten“

Der Münchner Nordamerika-Experte Michael Hochgeschwender legt die Defizite der Politik der Demokraten offen und erklärt die anhaltende Begeisterung für Donald Trump. Ein Gespräch über den US-Wahlkampf, die Versäumnisse der Medien und die mangelnde Kompromissbereitschaft der amerikanischen Gesellschaft – und wie identitätspolitische Lager diese verstärken.
Biden und Trump
Foto: Adobe Stock, Imago: Newscom¿/¿GDA; Montage: Stefanie Rielicke | Vor der US-Präsidentschaftswahl im November 2024 geht ein Riss durchs Land. Wo steht Amerikas Gesellschaft ein knappes Jahr vor der Wahl? Der Nordamerika-Experte Michael Hochgeschwender hat Antworten.

Amerikas Bürgern steht wohl das ins Haus, was laut Umfragen eigentlich kaum jemand will: eine Neuauflage des Duells "Joe Biden gegen Donald Trump" bei den im November anstehenden Präsidentschaftswahlen.

Nachdem Trump am Dienstagabend erwartungsgemäß auch die zweite Vorwahl im Bundesstaat New Hampshire für sich entschied, ist sein parteiinterner Sieg nur noch Formsache. Die einzig verbliebene Konkurrentin Nikki Haley will zwar weiter kämpfen - ob sie tatsächlich bis zur Vorwahl Ende Februar in ihrem Heimatstaat South Carolina im Rennen bleibt, ist offen. Bei den Demokraten hat der Amtsinhaber Joe Biden intern leichtes Spiel - im direkten Duell mit Trump prognostizieren die Umfragen allerdings ein Kopf-an-Kopf-Rennen.


Woran liegt es, dass Trump, der nach dem Sturm aufs Kapitol im Januar 2021 eigentlich schon politisch zu Grabe getragen wurde, wieder rehabilitiert scheint? Warum muss Biden derart um Anerkennung bei den Wählergruppen kämpfen, die ihm 2020 noch ins Weiße Haus verhalfen? Und wie wirken sich gesellschaftliche und kulturelle Umbrüche in der Bevölkerung auf die Wahlentscheidung aus? "Die Tagespost" hat dazu mit dem Experten Michael Hochgeschwender gesprochen.


Herr Hochgeschwender, stehen wir vor der wichtigsten US-Wahl aller Zeiten?

Nein. Es ist eine wichtige Wahl, so wie alle Präsidentschaftswahlen. Aber man sollte das Ganze nicht so hochspielen. In der Vergangenheit hat es schon eine ganze Reihe bedeutender Richtungswahlen gegeben, mit denen die amerikanische Politik über Jahrzehnte festgelegt worden ist – und mit ihr auch die Richtung der amerikanischen Gesellschaft. Ich erinnere an die Wahl von 1860; auch die Wahl Franklin D. Roosevelts 1932 war sehr wichtig. Das heißt nicht, dass die kommende Wahl unbedeutend wäre, im Gegenteil: Es steht viel auf dem Spiel. Aber man neigt momentan ein bisschen dazu, die Stärke des Systems in den USA zu unterschätzen.

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Sie haben die Wahl 1860 angesprochen. Damals wurde Abraham Lincoln zum Präsidenten gewählt, der später die Vereinigten Staaten im Bürgerkrieg führen sollte. Analogien dazu werden ja zuletzt auch immer wieder gezogen. Manche behaupten, die Stimmung im Land erinnere an den Vorabend des Bürgerkriegs. Können Sie solche Vergleiche nachvollziehen?

Ja, ich kann sie nachvollziehen, da sich die Lebenswelten der verschiedenen politischen Gruppen in den USA im Verlauf der letzten Jahrzehnte tatsächlich deutlich auseinanderentwickelt haben. Es haben sich Lager gebildet, die ihren völlig eigenen Lebensstil pflegen. Im einen brutzelt man gerne ein Steak, im anderen ernährt man sich vegetarisch oder vegan, um es etwas überspitzt zu sagen. Man sieht andere Fernsehsender, andere Fernsehserien. Auch Freundschaften zwischen Republikanern und Demokraten werden immer schwieriger. Das heißt aber nicht, dass man am Vorabend eines Bürgerkriegs steht. Was es gibt, sind gesellschaftliche Spannungen. Und beide Seiten müssen sich überlegen, wie weit sie diese Spannungen eskalieren lassen. Auch die Sprache der Demokraten ist da nicht besonders friedfertig.

"Beide Seiten müssen sich überlegen,
wie weit sie die Spannungen eskalieren lassen.
Auch die Sprache der Demokraten
ist da nicht besonders friedfertig"

Die Demokraten warnen ja massiv, teils in schrillen Tönen, vor der Bedrohung, die von Trump ausgeht. Trump und seine Anhänger wiederum sprechen von politischer Verfolgung und einer „Hexenjagd“. Spielen politische Inhalte überhaupt noch eine Rolle, oder werden sie von den Grabenkämpfen überlagert?

Man müsste definitiv mehr auf die inhaltliche Ebene zurückkehren. Da kann man auch wirklich Auseinandersetzungen führen. Ansonsten wirft man im Grunde nur mit Schlagworten um sich, ohne etwas zu erreichen. Natürlich, Trump redet wieder wirres Zeug, von wegen Diktator für einen Tag und Ähnliches. Doch so langsam müssten auch die Demokraten und die linksliberalen Medien begreifen, dass Trump sie da in eine Falle rennen lässt. Je intensiver sie sich darüber empören, umso mehr schweißen sie seine Basis zusammen.

Joe Biden muss um seine Wiederwahl fürchten
Foto: IMAGO/Al Drago - Pool via CNP (www.imago-images.de) | Muss sich auf eine Neuauflage des Duells mit Donald Trump einstellen: der amtierende US-Präsident Joe Biden.

Also wäre die Alternative für die Demokraten, sich mehr auf Sachfragen zu konzentrieren?

Wenn es um Sachfragen geht, haben die Demokraten auch ihre Probleme, denn so gut haben sie sich ökonomisch nicht geschlagen. Grundsätzlich kümmern sie sich nicht hinreichend um ihre klassische Klientel. Schauen Sie sich die schwarze Mittelschicht an: Dort hat Trump erstaunlich viele Unterstützer. Auch weiße Arbeiter nehmen die Demokraten kaum noch in den Blick. Die Partei müsste Politikangebote schaffen, die für diese Gruppen interessant sind, wenn sie sie nicht verlieren will.

Zuletzt wiesen Umfragen darauf hin, dass Bidens Unterstützung auch bei jungen Wählern, Frauen oder Latinos im Vergleich zu 2020 massiv abgenommen hat. Lösen sich die klassischen Unterstützermilieus der Parteien auf?

Die Erosion der traditionellen Wählermilieus beider Parteien ist ein Prozess, der schon seit den 1970er Jahren im Gange ist. Bei den Demokraten sind die klassischen Südstaaten-Vertreter alle weg, auch ein großer Teil der weißen Arbeiter. Man hat sehr stark auf den demografischen Wandel gesetzt und gehofft, mit dem Bevölkerungswachstum von Minderheiten, Schwarzen, Latinos und anderen automatisch Stimmen zu gewinnen. Jetzt merken die Demokraten aber, dass dem nicht so ist, weil Schwarze und Latinos aus der Mittelschicht eher dazu neigen, republikanisch zu wählen.

Aus welchen Gründen?

Aus ökonomischen Gründen. Man sollte sich aus demokratischer Sicht wirklich wieder darauf besinnen, eine wachstumsorientierte Wirtschaftspolitik zu betreiben, anstatt den Gegner zu denunzieren. Man denunziert ja nicht nur Trump, sondern im Grunde all seine Wähler. Auf Seiten der Demokraten ist sehr viel Überheblichkeit im Spiel. Das war schon unter Hillary Clinton der Fall. Unter Biden sollte es besser werden, doch da hat er viele enttäuscht.

"Auf Seiten der Demokraten
ist sehr viel Überheblichkeit im Spiel"

2020 galt Biden noch als die integrative Figur, die es vermochte, die auseinanderdriftenden Milieus in einer Koalition zu versammeln. Kann er darauf dieses Jahr nicht mehr bauen?

2020 schnitt Biden bei älteren weißen Männern sehr stark ab, vor allem bei älteren weißen katholischen Männern. Ob die ihn nochmal wählen, wage ich zu bezweifeln. Diesmal wird er vermutlich auf die Unterstützung junger Frauen setzen – und zwar aufgrund der Abtreibungsfrage. Mit diesem Thema können die Demokraten am ehesten punkten, ansonsten haben sie nicht wirklich viele Erfolge vorzuweisen. In der Migrationspolitik hat sich wenig getan, die Vizepräsidentin Kamala Harris ist komplett aus der Öffentlichkeit verschwunden. Außenpolitisch bietet Trump durchaus eine Alternative. Die ist zwar für uns Deutsche und die NATO unangenehm, aber in den USA wird ganz offen diskutiert, ob die USA weiter wie bisher ihre Rolle des Weltpolizisten ausüben sollen. 

Dabei treibt die internationale Kriegs- und Konfliktlage momentan viele in Deutschland und Europa um. Die Ansätze Bidens und Trumps könnten unterschiedlicher kaum sein. Wie wichtig ist der amerikanischen Bevölkerung diese globale Perspektive überhaupt für ihre Wahlentscheidung?

Ich glaube nicht, dass die Außenpolitik wahlentscheidend sein wird. Natürlich muss uns Europäer das interessieren. Aber man sieht es an Trumps einzig verbliebener Gegenkandidatin Nikki Haley: In Europa könnte man außenpolitisch mit ihr gut leben. Doch das Thema dominiert nicht ihren Wahlkampf. Abgesehen von der Zeit des Kalten Krieges haben außenpolitische Themen bei US-Wahlen nie die vorrangige Rolle gespielt.

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Sie haben auch die Abtreibungsfrage angesprochen. Wir stehen vor der ersten Präsidentschaftswahl, seitdem „Roe v. Wade“ Geschichte ist. Sehen Sie hier weiterhin großes Mobilisierungspotenzial?

Durchaus, insbesondere eben bei jungen Frauen. Auf der Ebene der einzelnen Bundesstaaten war zuletzt erkennbar, dass die Demokraten bei Referenden vom neuen Grundsatzurteil des Obersten Gerichtshofs profitierten. Es setzte sich fast immer eine Position durch, die nicht identisch war mit der republikanischen Parteilinie, selbst in klassisch konservativen Staaten. Auch bei den Zwischenwahlen 2022 mobilisierte das Thema die Demokraten. Die aus Sicht der Abtreibungsbefürworter negativen Folgen des Gerichtsurteils sind somit zum Teil schon wieder aufgefangen. Daher wird man abwarten müssen, ob die Abtreibungsfrage bei den Präsidentschaftswahlen nochmals diesen Mobilisierungseffekt hat.

Auf der anderen Seite hat Floridas Gouverneur Ron DeSantis, der wohl entschiedenste Abtreibungsgegner, nun das Rennen verlassen. In seinem Heimatstaat wollte er sogar ein Abtreibungsverbot nach der sechsten Schwangerschaftswoche durchsetzen.

Mit Blick auf die republikanische Basis in Florida ist das nachvollziehbar, als Präsidentschaftsanwärter jedoch unklug. Denn da ist er auf die landesweite Wählerschaft angewiesen. Solche Vorstöße, die nicht mehrheitsfähig sind, vergraulen insbesondere viele junge Wählerinnen.

Werfen wir mal einen näheren Blick auf Donald Trump, der sehr wahrscheinlich der Kandidat der Republikaner sein wird. Wie erklären sie sich die Faszination, die Trump noch immer auf viele ausübt?

Die Begeisterung für Trump hat zwei unterschiedliche Ebenen. Zum einen die politische: Viele sagen, mir ist es schlicht unter Trump besser gegangen als unter Biden.

Gefühlt besser oder faktisch?

Faktisch. Tatsächlich ist es vielen mittelständischen Betrieben unter Trump eigentlich ganz gut gegangen. Unter Biden hat sich das nun geändert. Das liegt primär an der Inflation. Die ist in den USA immer ein Problem, aber in der Biden-Ära ist sie deutlich angestiegen. Trumps Steuerreform dagegen hat damals durchaus gewirkt. Insgesamt ging es der Wirtschaft gar nicht so schlecht unter Trump. Insofern gibt es eine objektive politisch-ökonomische Basis, auf der eine rationale Entscheidung für Trump möglich ist.

Und die zweite Ebene?

Das wäre die psychologische: Viele sagen, Trump ist endlich einer, der es diesem Establishment zeigt, das seit Jahrzehnten den Ton angibt, das gesellschaftliche Projekte verfolgt, die uns nicht gefallen, etwa in Sachen LGBTQ-Interessen oder Migration. Da hat sich eine Gemengelage entwickelt, in der viele Wähler Trump als denjenigen sehen, der am ehesten aufräumt.

"Viele sagen, Trump ist endlich einer, der es
diesem Establishment zeigt, das seit Jahrzehnten
den Ton angibt, das gesellschaftliche Projekte
verfolgt, die uns nicht gefallen"

Wobei er selbst inzwischen ja auch Teil des Establishments ist…

Er war im Prinzip schon immer Teil des Establishments. Aber er versteht es, sich als Person so zu inszenieren, als wäre er es nicht.

Was wird Trump in einer potenziellen zweiten Amtszeit anders machen? Wird er besser vorbereitet sein?

Während seiner ersten Amtsperiode merkte man, dass er überhaupt keine Ahnung von dem hat, was er tut. Er musste ja permanent seine Mitarbeiter auswechseln. In den letzten Jahren hat er allerdings zuverlässige Leute um sich geschart. Und noch wichtiger: Er verfügt über die Kontrolle der Partei sowohl im Repräsentantenhaus wie auch im Senat. Trump kann auf 117 Abgeordnete zählen, die ihn unterstützen. Nikki Haley zum Vergleich nur auf einen einzigen. Das ist natürlich ein Pfund, mit dem er wuchern kann. Daher ist es ihm auch immer wieder gelungen, seine Kandidaten in hohen Ämtern durchzusetzen.

…wenn auch nicht alle.

Ja, das ist ja ein Phänomen bei Trump: Er mobilisiert immer beide Seiten, und manchmal geht es für ihn auch nach hinten los. Unterm Strich ist er heute jedoch viel besser in der Partei positioniert, als er es noch vor vier Jahren war.

Donald Trump ist derzeit auf Erfolgskurs
Foto: IMAGO/TANNEN MAURY (www.imago-images.de) | Trump auf Erfolgskurs: Es gibt gute Gründe, weshalb große gesellschaftliche Gruppen in den USA ihn wählen, meint Hochgeschwender.

Zu Trumps Kernwählern gehörten stets auch die Evangelikalen. Zwischenzeitlich gab es Berichte, diese Allianz wäre am Bröckeln, einflussreiche Prediger wandten sich von Trump ab. Kann er noch einmal auf das Bündnis mit den Evangelikalen zählen?

Wenn man sich die Liste seiner Unterstützer anschaut, dann sind da bedeutende evangelikale Prediger dabei, etwa Jerry Falwell Jr. oder Robert Jeffress. Es hat tatsächlich im evangelikalen Lager Irritationen über Trump gegeben, man muss aber unterscheiden zwischen den führenden Köpfen und der Anhängerschaft. Auch wenn führende evangelikale Prediger Trump nicht mehr unterstützen, heißt das nicht, dass deren Anhängerschaft ihn nicht mehr wählt.

Und die Katholiken? Werden sie wieder gespalten sein entlang der Linien progressiv-konservativ?

Das wird diesmal wieder so sein, da die Demokraten für konservative Katholiken eigentlich keine Angebote haben, ebenso wenig für Evangelikale. Warum sollten konservative Katholiken Biden wählen? Die einzige Alternative zu Trump ist es, nicht wählen zu gehen. Aber dafür hegen sie zu großen Groll gegen die Demokraten. Insbesondere, nachdem Biden auch in der Abtreibungsfrage umgefallen ist. Es gibt allerdings Gründe dafür, Trump nicht zu wählen, das ist dann eine Gewissensfrage. Gleichzeitig gilt für progressive Katholiken natürlich, dass sie die Republikaner nicht wählen können.

"Es gibt für konservative Katholiken
Gründe dafür, Trump nicht zu wählen,
das ist dann eine Gewissensfrage"

Aufgrund der Migrationspolitik?

Einerseits ja, wobei auch aus demokratischen Kreisen, etwa aus den Südstaaten, zu vernehmen ist, dass die Migration aus Lateinamerika zu hoch sei und die Parteispitze nicht ausreichend dagegen vorgehe. Es gibt also schon auch den Wunsch nach einer kontrollierten Migration. Da hat die Biden-Administration nicht viel geliefert.

Der äußerste linke Flügel der Demokraten würde vermutlich sagen, Bidens Migrationspolitik sei zu restriktiv.

In der Tat. Und was erstaunlich ist: Tatsächlich gibt es im Milieu der ganz linken Demokraten sogar solche die sagen, sie würden Trump wählen, weil Biden ihnen nicht progressiv genug ist und sich nicht genügend für ihre Belange einsetzt. Die sagen sich: Ehe ich diesen alten Opa Biden wähle, wähle ich lieber den radikalen Opa Trump. Der ist wenigstens radikal.

"Manche sagen sich:
Ehe ich diesen alten Opa Biden wähle,
wähle ich lieber den radikalen Opa Trump"

Eine völlig absurde Argumentation. Da müssen sie schon sehr frustriert von Biden sein.

Aber derartiges Denken ist den USA leider weit verbreitet: Wenn es nicht zu 100 Prozent so geht, wie ich das will, dann opponiere ich gegen die, die mir am nächsten stehen. Das fängt mit der Denunziation des Kompromisses in der amerikanischen Öffentlichkeit an. Wer Kompromisse schließt, gilt immer als faul. Lieber geht man gar keinen Kompromiss ein und wählt die andere Seite, um radikales Missfallen kundzutun.

Mit seiner entschiedenen Positionierung an der Seite Israels hat Biden ja einige, vor allem junge, Progressive vergrault. Wird die grundsätzlich pro-israelische Position noch zum Problem an der Wahlurne?

Sie kann zum Problem werden in bestimmten Kreisen der Demokraten, in denen es eine ausgeprägte Israel-Feindschaft gibt. Dazu zählt vor allem das Umfeld einiger Kongressabgeordneter vom demokratisch-sozialistischen Flügel, aber auch innerhalb der schwarzen Minderheit gibt es heftige anti-israelische Affekte.

Der Münchner Nordamerika-Experte Michael Hochgeschwender im ausführlichen Interview
Foto: LMU Universität München | "Man muss sich mit abweichenden Standpunkten auseinandersetzen und in der Lage sein, seine eigene Position zu hinterfragen.

Hierzulande galten die USA lange als Leitnation, als Vorbild. Viele – auch negative – Entwicklungen sind mit zeitlicher Verzögerung auch zu uns herübergeschwappt. Wird uns auch diese Spaltung drohen, dieser Unwille zum Kompromiss?

Wir sind als Gesellschaft etwas stärker auf Konsens ausgerichtet als die amerikanische. Und es ist ja nicht so, dass all die Phänomene, über die wir sprechen, rein amerikanische Entwicklungen wären. Vielmehr handelt es sich um soziale Entwicklungen, die man in vielen modernen Industriegesellschaften findet.

Wie erklären sich diese?

Nun, aufgrund der politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse verschieben sich Dinge, Lebenssituationen driften auseinander, während gleichzeitig Milieus, die früher für Bindungskräfte gesorgt haben, zerfallen. In Deutschland zerfällt ja nicht das katholische Milieu alleine, sondern etwa auch das alte Arbeitermilieu. Dadurch entsteht eine Situation, in der gewissermaßen die vom Milieu traditionell vorgegebenen Leitlinien nicht mehr die Bindungskraft entwickeln, die sie früher hatten. Diese Leitlinien ermöglichten es aber, Kompromisse einzugehen. Heute hat man sehr oft Ad-hoc-Koalitionen, die bestimmte Dinge wollen, und nur diese Dinge wollen. Wenn die nicht durchgesetzt werden, dann sind sie unzufrieden. Das führt zu einem Auseinanderdriften im Diskurs.

"Heute hat man sehr oft Ad-hoc-Koalitionen,
die bestimmte Dinge wollen, und nur
diese Dinge wollen. Wenn die nicht
durchgesetzt werden, dann sind sie unzufrieden"

Hängen die fehlenden Leitlinien nicht auch mit einem spirituellen Niedergang oder Werteverfall zusammen?

Es kommt darauf an, von welcher Perspektive man das betrachtet. Vom katholischen Standpunkt her könnte man von einem Werteniedergang sprechen, neutraler auch von einem Wertewandel. Grundsätzlich kann man feststellen: Es verändert sich ziemlich viel. Und die Werte-Diskussion muss neu geführt werden. Es ist ja nicht so, als hätten diese neuen Kräfte überhaupt keine Werte. 

Sondern?

Sie haben oft sehr beschränkte Eigeninteressen. Man muss sich nur die identitätspolitischen Anliegen von rechts und links anschauen. Da geht es ja immer sehr stark um die eigene Gruppe, die mehr oder minder ad-hoc entstanden ist, sich eine Identität gibt und dann versucht, diese auf Biegen und Brechen durchzusetzen. Da werden natürlich auch Werte verhandelt, aber eben nicht mit dem Willen zum Kompromiss. 

Sehen Sie da einen Ausweg?

Der Vorteil ist: Diese Identitätskonstruktionen, mit denen jetzt gearbeitet wird, sind alle sehr stark fluktuierend. Die Vertreter identitätspolitischer Interessen werden es auf Dauer sehr schwer haben, ihre Klientel bei der Stange zu halten. Ein Beispiel: Eine Transgender-Person, die Arbeiter in Ohio ist, die ist identitär nicht nur Transgender, sondern auch Arbeiter, und will täglich etwas zu Essen haben. Wenn sie arbeitslos ist, hat sie erstmal ein ökonomisches Interesse und weniger ein Transgender-Interesse. Das heißt, je nach Situation verschieben sich die Wertewelten, in denen sich Individuen und Gruppen bewegen. Daher wird es auch schwer, permanente Oppositionen aufrechtzuerhalten, wenn alles in Bewegung ist.

Können wir denn etwas lernen aus dem Umgang der USA mit dieser Gemengelage?

Wir sollten vorsichtig sein mit den Begriffen. Vorsichtig sein damit, der anderen Seite permanent nur bösen Willen zu unterstellen. Während der Pandemie hat man gesehen, dass sofort eine Art Denunziationsmaschinerie in Gang kam, man warf sich gegenseitig nur noch Schlagworte an den Kopf. Momentan erleben wir das auch wieder im Nahostkonflikt. Da wird sehr unterkomplex argumentiert. Und es ist nun mal ein sehr komplexes Geschehen. Es ist auch ein Auftrag der Medien, hier zu vermitteln und unterschiedliche Argumente aufzuzeigen. Die teilt dann vielleicht nicht jeder, aber sie sind nun mal in der Welt, und man muss sich mit ihnen auseinandersetzen.

"Wir sollten vorsichtig sein mit den Begriffen.
Vorsichtig sein damit, der anderen Seite
permanent nur bösen Willen zu unterstellen"

Wie beurteilen Sie denn die mediale Berichterstattung in Deutschland zu Amerika und zum Wahlkampf? 

Man macht es sich ein bisschen einfach, weil die deutschen Medien tatsächlich fast ausnahmslos auf Seiten der Demokraten stehen. Man hat immer den Eindruck, den Trump-Wählern bringt man nur völliges Unverständnis entgegen. Natürlich gibt es auch Ausnahmen. Im Genre der Reportage ist die Berichterstattung oft besser, ausgewogener. Aber auf nachrichtlicher Ebene kommt vieles simplifizierend daher.

Trägt das dann vielleicht auch dazu bei, dass manche – auch hierzulande – so eine „Jetzt-erst-recht“-Haltung einnehmen und eher hinter Trump stehen?

Ja, das sehe ich schon. Man müsste differenzierter argumentieren. Trump ist als Person eine fragwürdige Figur. Und das kann man auch ganz offen sagen. Aber man muss auch sagen, dass es Gründe gibt, weshalb große gesellschaftliche Gruppen in den USA ihn wählen. Und das sind immerhin 75 Millionen Wähler. Die können nicht alle bescheuert sein. 

Wenn man das unterstellt, schiebt man ihnen ja ohnehin nur die Opferrolle zu, die sie bereitwillig annehmen.

Das ist auch ein Phänomen, das momentan ein wenig nervt. Alle fühlen sich gerne als Opfer, sind so ein bisschen weinerlich. Das gilt für beide Seiten. Konflikte gibt es halt, Gesellschaften sind immer irgendwo gespalten. Aber man muss einfach auch ertragen, dass Menschen dezidiert anderer Meinung sind. Man muss sich mit abweichenden Standpunkten auseinandersetzen und in der Lage sein, seine eigene Position zu hinterfragen. Das geschieht mir im öffentlichen Diskurs momentan viel zu selten.

Würden Sie sagen, die Bereitschaft, sich mit anderen Standpunkten auseinanderzusetzen, hat im Vergleich zu früher abgenommen?

Ja natürlich. Schon früher ging man in der Politik sehr scharf miteinander um. Und trotzdem wäre niemand auf die Idee gekommen, sich ständig zu beklagen, man dürfe nichts mehr sagen. Man hat einfach konfrontativ miteinander diskutiert. Und man hat sich auf prozessuale Grundlagen geeinigt, an denen man auch nicht rüttelte. Das wiederum ist ein Problem bei Trump. Früher galt: Wenn ich die Wahl verloren habe, dann habe ich sie halt verloren. Heute fängt Trump an rumzuheulen, er sei betrogen worden. Man geriert sich permanent als Opfer, und damit macht man sich eigentlich selber klein. Konservative sind da keinen Deut besser als Linksliberale. 

"Früher galt: Wenn ich die Wahl verloren habe,
dann habe ich sie halt verloren. Heute fängt Trump
an rumzuheulen, er sei betrogen worden"

Dann ist Trump wohl einfach nur besser darin, die Opferrolle zu spielen…

So könnte man es sagen.

Irgendwann wird auch Trump nicht mehr in der Politik aktiv sein – was kommt für die Republikaner danach? Zum alten Establishment zurückzukehren, dürfte ja eine Illusion sein…

Es handelt sich um eine fragile Koalition, die Trump da gezimmert hat, und es stellt sich die Frage, ob die überhaupt jemand übernehmen kann. Vielleicht versucht es ein Mitglied der Familie, nach dem Vorbild der Kennedys, in der Hoffnung, dass der Name zieht. Wer auch immer das tut, müsste aber in der Lage sein, diese Art von charismatischer Herrschaft über die Partei, die Trump ja innehat, weiterzuführen. Dazu braucht man eben die Persönlichkeit. Wenn sie die nicht finden, haben die Republikaner ein echtes Problem.


Michael Hochgeschwender hat an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität eine Professur für Nordamerikanische Kulturgeschichte, Empirische Kulturforschung und Kulturanthropologie inne.

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