Vielleicht wird man eines Tages zurückschauen und feststellen, dass die Rede, die Joe Biden am Samstag im Warschauer Königschloss gehalten hat, die wichtigste Rede seiner Präsidentschaft war. Die Rede, die ihn zum Präsidenten der Herzen und mächtigsten Mann der freien Welt machte. Ruhig und souverän, aber auch mit einer Kraft, die viele dem fast 80-Jährigen nicht zugetraut hätten, als er das Amt vor mehr als einem Jahr übernahm, stellte er sich entschieden an die Seite der Europäer: „Amerikanische Truppen sind in Europa, um ihre Verbündeten zu verteidigen.“ Damit nicht genug: Amerika habe die „heilige Pflicht, jeden Zentimeter des Nato-Gebietes zu verteidigen“.
Biden zitiert Papst Johannes Paul II.
Solche Worte wollte man in Polen, an der Ostflanke des Nato-Gebiets, hören – und Biden gelang es, auch die religiöse Mentalität der Nation zu berühren, indem er an die Eingangsworte des Pontifikats von Papst Johannes Paul II. erinnerte: „Fürchtet Euch nicht!“ Die Zuhörer spürten: wie damals sind diese Worte auch heute gültig. Und Biden, der „Katholik im Weißen Haus“, wie ein aktueller Buchtitel lautet, trug sie überzeugend und authentisch vor.
Doch Joe Biden wusste am Ausklang dieses kühlen und bedeckten Frühlingstages, an dem die polnische Hauptstadt aufgrund seines Besuches fast vollständig absperrt war, dass auch andere Europäer zuhören und so machte er, womöglich in Richtung Deutschland klar: „Kein Land kann in der Energieversorgung von einem Tyrannen abhängig sein.“ Und: „Europa muss seine Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen beenden, und wir werden helfen.“ Der Westen habe massive Sanktionen gegen Russland verhängt. „Wir zielen auf das Herz der russischen Wirtschaft.“
Bereits vor der Rede hatte Biden in einem öffentlich übertragenen Gespräch mit dem polnischen Präsidenten Andrzej Duda unterstrichen, dass bei einem Angriff auf ein Nato-Mitglied der Bündnisfall in Kraft trete: „Artikel 5“.
Verspricht Aufnahme von 100 000 ukrainischen Flüchtlingen
Am Mittag war der US-Präsident zusammen mit dem polnischen Premier Mateusz Morawiecki im Nationalstadion in Warschau mit ukrainischen Flüchtlingen in Kontakt gekommen, dabei zeigte Biden seine faszinierende Sensibilität für die Not der Menschen. Im mitfühlend-lockeren Gespräch mit Frauen und Kindern machte er ihnen Mut. 100 000 ukrainische Flüchtlinge werden die Vereinigten Staaten aufnehmen, versicherte er. Und auf die Nachfrage eines Mannes, was er von Putin halte, antwortete er kurz und bündig: „Ein Metzger.“ Die russische Antwort ließ nicht lange warten. Fast zeitgleich mit Bidens Rede wurde erneut die westukrainische Stadt Lemberg von russischen Raketen getroffen.
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