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Die Rückkehr der Hetzjagd

86 Jahre nach der Reichspogromnacht müssen wieder Juden aus Europa evakuiert werden. Die Amsterdamer Ausschreitungen bezeugen eine bittere Realität, der sich gerne auch die deutschen Bischöfe stellen dürfen.
AMSTERDAM - Police in the center of Amsterdam
Foto: IMAGO (www.imago-images.de) | In Amsterdam war es nach dem Fußball-Spiel von Ajax Amsterdam gegen Maccabi Tel Aviv am Donnerstagabend zu Ausschreitungen gekommen: propalästinensische Jugendliche griffen gezielt israelische Fußballfans an.

Heute Abend wird der Mauerfall 35 Jahre her sein. „Ein Glückstag, für den wir Deutschen bis heute dankbar sind“, so formulierte es Olaf Scholz gestern in einer Videobotschaft. Klar, so viel ist Konsens. Was fällt uns dazu heute noch ein? Der mentale Raum für große Rückblicke war gefühlt schon mal größer, zu atemlos ist der Takt, den die politische Gegenwart vorgibt. Die üblichen mahnenden Worte – auch 35 Jahre später seien Ost und West noch nicht so richtig zusammengewachsen, das könne man ja an den Wahlergebnissen im diktatursozialisierten Osten sehen – wirken durchgenudelt, überzeugen heuer noch weniger. Zwar liegen die dortigen Landtagswahlen erst kurz zurück und bescherten den Protestparteien erneute Rekordergebnisse, doch spätestens seit der Trump-Wahl ist klar, dass Ostdeutschland damit schlicht eher stärker den dominierenden Trends des „Westens“ folgt als Westdeutschland selbst.

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Noch ein anderes Ereignis verbindet Deutschland freilich mit dem 9. November: die Reichspogromnacht 1938, Fanal des Holocausts. Auch hier haben die Zeiten sich gewandelt: Bedeutete die Beschäftigung mit diesem Tag in den zurückliegenden Jahrzehnten wiederkehrend-betroffene Reflexion der eigenen historischen Schuld, so fällt der Blick am heutigen Tag unweigerlich auf den neuen gegenwärtigen gewalttätigen Antisemitismus. Erst am Donnerstagabend zeigte sich erneut, wie gefährlich Europa für Juden wieder geworden ist. 20 bis 30 Verletzte und Evakuierungsflüge nach Israel, das ist die Bilanz von antisemitischen Hetzjagden (hier trifft das Wort ganz unzweifelhaft zu, die Videos sprechen für sich) offensichtlich zumeist arabischstämmiger „propalästinensischer“ junger Männer auf Fans des israelischen Fußballvereins Makkabi Tel Aviv in Amsterdam. Man muss wohl nicht so weit wie Geert Wilders gehen – der niederländische Rechtspopulist ordnet die Geschehnisse als Pogrom ein –, aber die Bilder von zusammengetretenen Israelis und jungen Menschen, die mit den Worten „I’m not jewish, I’m not jewish“ („Ich bin nicht jüdisch“) versuchen, ihre Peiniger zum Ablassen zu bewegen, sind ekelerregend. Niemand sollte sich der Illusion hingeben, dergleichen wäre in Deutschland nicht möglich.

Mit „völkischen Ideologien" meint Bätzing die politische Rechte

Gibt es eine spezifisch christliche Perspektive auf den Schrecken? Von der Deutschen Bischofskonferenz hat man – Stand Samstagvormittag – noch nichts zu dem Vorfall gehört. Auch wenn noch etwas kommen sollte – es offensichtlich, dass hier ein kommunikatives Problem besteht. Der deutsche Episkopat tut sich seit Jahren schwer mit dem Eingeständnis, dass die aus ihrer Sicht christlich geforderte Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten unangenehme Nebenwirkungen mit sich bringt, nicht zuletzt für die hier lebenden Juden. Der in sich durchaus wohlbegründete Fokus der Bischöfe auf die Abwehr des Rechtsextremismus wirkt fast tragisch einseitig, wenn etwa der DBK-Vorsitzende Georg Bätzing am Vorabend der Amsterdamer Hetzjagden in einem Vortrag in Frankfurt zum Thema „christliche Friedensbotschaft“ konstatiert: „Wir erleben, wie Identitätsstrukturen, die Halt geben sollen, genutzt werden, um sich abzugrenzen, Feindbilder aufzubauen und völkischen und nationalistischen Ideologien Raum zu schaffen – im Äußeren wie im Inneren. Eine Strategie, die nicht neu ist, sondern uns Deutschen aus der Geschichte vertraut und aus der Perspektive der Verantwortung zu großer Wachsamkeit rufen muss“.

Man darf davon ausgehen, dass Bätzing mit seiner zutreffenden Rede von völkischen Ideologien „im Inneren“ nur die politische Rechte im Sinn hat, zumal er seiner Rede zwar erwähnt, viele Mitglieder der Frankfurter jüdischen Gemeinde belaste der Krieg in Nahost, hätten sie doch Freunde und Angehörige durch den Hamas-Terror vom 7. Oktober 2023 verloren, den steigenden Druck auf Juden in Deutschland in Folge des Krieges aber mit keinem Wort erwähnt. Dabei ist die perverse Art von „Solidarität“, die in Europa lebende arabischstämmige Männer motiviert, auf Juden einzuprügeln, weil sie Juden sind, natürlich genau das: Ausfluss einer völkisch motivierten Identitätsstruktur. Wir gegen die, Blut ist dicker als Wasser. Völkisches Gedankengut ist, zumindest so wie von der Bischofskonferenz definiert (also als Überzeugung der Existenz eines „Ethnos“, dem vorrangige Solidarität geschuldet wird), eher welthistorischer Mainstream als deutsches Alleinstellungsmerkmal. Die Bischöfe sollten diese Realität anerkennen, wenn sie ernstgenommen werden wollen.

Jede Kultur hat eigene Gerechtigkeitsvorstellungen

Der gedankliche Weg dahin ist eigentlich gar nicht so weit. Bätzing selbst fügte in seiner Friedensrede mit Bezug auf die Versuche, etwa Afghanistan zur Demokratie zu machen, die folgenden Sätze ein: „Der moderne Staat europäischer Prägung ist eben das Ergebnis einer jahrhundertelangen, vielschichtigen Entwicklung. Er lässt sich nicht einfachhin auf andere Kulturkreise übertragen. Demokratisierung muss vielmehr die gewachsenen kulturellen Gegebenheiten berücksichtigen. Jede Kultur hat eigene Erfahrungen in sozialer Konfliktregulierung und eigene Gerechtigkeitsvorstellungen.“ Da ist was dran. Kulturell gewachsene Vorstellungen sind sicher nicht gänzlich unveränderlich, aber halt doch oft nur schwer zu ändern. Also bitte nicht wundern, wenn die zunehmende Präsenz „anderer Kulturkreise“ in Europa „Konfliktregulierung“ in Form von Hetzjagden als ausgleichende „Gerechtigkeit“ für Gaza mit sich bringt. 

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