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Manfred Berg: „Die Republikaner sind zu einer nationalistisch-populistischen Partei geworden“

Kaum einer verkörpert die Transformation der Partei Bushs und Reagans so sehr wie der designierte Vizepräsident J. D. Vance, meint der Heidelberger Historiker Manfred Berg. Ein Gespräch über Bidens Rückzug, das Attentat auf Donald Trump, die fortschreitende Polarisierung der amerikanischen Gesellschaft und die Frage, wer die Verantwortung für das aufgeheizte politische Klima trägt.
Donald Trump beim Parteitag der Republikaner in Milwaukee
Foto: IMAGO/Carol Guzy (www.imago-images.de) | Der Historiker Manfred Berg sieht Donald Trump als klaren Favoriten im Wahlkampf. "Er hat die Republikanische Partei geschlossen hinter sich.

Herr Professor Berg, momentan überschlagen sich die Entwicklungen im US-Wahlkampf. War die Entscheidung Joe Bidens, seine Präsidentschaftskandidatur zurückzuziehen, richtig?

Die Entscheidung war überfällig, und sie kommt nach quälendem Zögern. Am besten wäre er erst überhaupt nicht zu den Vorwahlen angetreten. Spätestens nach der Fernsehdebatte mit Trump hätte er die Konsequenzen ziehen müssen. Damit, dass er fast einen Monat gewartet hat, hat er sich selbst und seine Partei in eine schwierige Lage gebracht. Aber besser spät als nie, denn wäre er im Rennen geblieben, hätte er mit Sicherheit verloren. Sein Rückzug ist die einzige Chance, dass die Demokraten das Ruder noch einmal herumreißen können.

Kann die bislang eher blasse Vizepräsidentin Kamala Harris nun die Partei hinter sich bringen?

Harris hat den Hut sofort in den Ring geworfen. Jetzt muss sie zeigen, was in ihr steckt. Sie ist bislang nicht ohne Grund dafür kritisiert worden, dass sie sich nicht stärker politisch profiliert hat. Das muss sie jetzt schnell nachholen. Die Demokraten wiederum müssen sich jetzt schnell hinter ihr versammeln. Ein offener Konvent oder gar eine „Blitzvorwahl“ wären politischer Selbstmord, zumal gar keine profilierte Alternative bereitsteht. Nach den bekannten Regeln der US-Politik muss Harris jetzt rasch einen zugkräftigen „Running Mate“ auswählen, der einen der „Swing States“ repräsentiert und als Mann der Mitte gilt. Josh Shapiro aus Pennsylvania und Mark Kelly aus Arizona dürften in Frage kommen. 

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Wäre Harris als Präsidentin „Biden 2.0“ – oder sind von ihr andere Akzente zu erwarten?

Vizepräsidenten, die unerwartet ins Weiße Haus einzogen, waren in der Geschichte sehr unterschiedlich. Viele sind vergessen, andere schafften es nicht, eigenes Profil zu gewinnen, so wie Gerald Ford 1974 bis 1977. Lyndon B. Johnson dagegen wurde ab 1963 zu einem bedeutenden Reformpräsidenten, stürzte das Land aber auch in den Vietnamkrieg. Natürlich wird die Politik eines Präsidenten beziehungsweise einer Präsidentin primär von den Krisen und Herausforderungen bestimmt. Innenpolitisch sind dies die Inflation und die Einwanderung, außenpolitisch die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten. Ich erwarte in allen diesen Fragen erst einmal Kontinuität, sollte Harris gewinnen. Ganz sicher würde Harris als Präsidentin einen gänzlich anderen Stil pflegen als Biden: Sie ist relativ jung, eloquent, und sie wäre die erste Frau in diesem Amt, zumal eine nichtweiße. Die Trumpisten werden sie hassen. Ob sie ein neuer Obama werden kann, müsste sie zeigen, wenn sie gewinnt.  

"Harris ist relativ jung, eloquent, und sie wäre die erste Frau in diesem Amt, zumal eine nichtweiße. Die Trumpisten werden sie hassen"

Bidens Rückzug ist nicht der einzige Paukenschlag. Große Schockwirkung hatte zuvor das Attentat auf Donald Trump. Ein erschreckendes, aber doch singuläres Ereignis – oder Beleg dafür, dass die USA einem Pulverfass gleichen, das kurz vor dem Explodieren steht?

Ich sehe das Attentat als Ausdruck einer seit Langem stattfindenden Polarisierung, einer Spaltung der amerikanischen Gesellschaft in verfeindete ideologische Lager. Die großen Parteien haben sich im Grunde genommen in Stämme, in „Tribes“ gespalten. Das Attentat kam insofern für mich nicht überraschend, als politische Gewalt, auch Attentate auf Präsidenten oder Präsidentschaftskandidaten, in der amerikanischen Geschichte keine Seltenheit sind. Der Angriff auf Trump stellt nur den jüngsten Höhepunkt einer schwelenden politischen Eskalation dar, die durchaus auch in eine weitere Gewalteskalation münden könnte.

Dass Trump buchstäblich um Haaresbreite einem Mordversuch entgeht, dürften dennoch die wenigsten erwartet haben.

Trump hat großes Glück gehabt, das ist völlig klar. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn er getötet worden wäre. Dann wäre es wohl zu gewaltsamen Ausschreitungen seiner Anhängerschaft gekommen. 

Trump genießt nach dem Attentat zumindest bei seinen Anhängern Helden-, ja sogar Märtyrerstatus. Bietet sich ihm jetzt die Chance, dadurch neue Wählerschichten zu mobilisieren, die er vorher noch nicht angesprochen hat?

Er ist im Augenblick natürlich Profiteur dieser Vorgänge und gilt für mich als klarer Favorit im Wahlkampf. Er hat die Republikanische Partei geschlossen hinter sich. Bei seinen Anhängern genießt er die Aura des Mannes, der von der „Vorsehung“ gerettet wurde, um Amerika zu retten. Diese Sakralisierung eines politischen Führers, der ein Attentat überlebt, ist ja etwas, was wir aus der Geschichte gut kennen. Sie spricht zwar eher den harten Kern der eigenen Anhängerschaft an. Ich glaube allerdings, dass die Art und Weise, wie Trump auf dieses Attentat reagiert hat, insbesondere diese sehr kraftvolle Pose der erhobenen Faust, unentschiedene Wähler durchaus auf seine Seite ziehen kann. 

Nun trat Trump nach den Schüssen vergleichsweise gemäßigt, ja sogar versöhnlich auf. Er appellierte an die Bürger, geeint zusammenzustehen. Kaufen Sie ihm diese Milde ab?

Nein, und zwar aus drei Gründen. Erstens: Es entspricht schlicht und einfach nicht seinem Naturell. Zweitens: Sein gesamtes politisches Geschäftsmodell war auf maximale Polarisierung und Spaltung ausgelegt. Er hat während seiner ersten Amtszeit nicht einmal den Eindruck zu erwecken versucht, dass er Präsident aller Amerikaner sein wollte. Und drittens: Er selbst mag im Augenblick Kreide gefressen haben, wenn man es so nennen will, aber seine Berater, auch sein designierter Vizepräsident J. D. Vance, glänzen ja durchaus weiterhin mit Polemik. Trump kann sich diese Rollenverteilung im Augenblick leisten. Aber an der Radikalität seiner Methoden und auch seiner Ziele wird sich nichts ändern.

An der Radikalität seiner Methoden und auch seiner Ziele wird sich nichts ändern"

Sie haben den Vizepräsidentschaftskandidaten J. D. Vance genannt. Sehen Sie ihn einfach nur als zweiten Mann hinter Trump? Oder soll Vance einmal die Nachfolge an der Spitze der „Make America great again“-Bewegung antreten?

Mit Vance hat sich Trump natürlich einen Hoffnungsträger für die Zukunft ins Boot geholt. Dass er die Vizepräsidentschaft nicht als das Ende seiner politischen Karriere sieht, ist keine steile These. Ich glaube aber, dass die Nominierung vor allem etwas anderes signalisiert.

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Und zwar?

Die endgültige Transformation der Republikaner von einer sozialkonservativen und wirtschaftsliberalen Partei in eine nationalistisch-populistische Bewegung mit starker Basis in der Arbeiterklasse und unteren Mittelschicht. Und genau das verkörpert Vance als Mann des „Heartland“ und des „Rust Belt“. Ob in Ohio, Michigan, Wisconsin oder Pennsylvania – die Arbeiter identifizieren sich mit ihm. Er ist einer der ihren. Auf der anderen Seite verkörpert er aber auch den „American Dream“. Vance ist jemand, der sich, wenn ich es mal wirklich drastisch ausdrücken darf, aus dem Dreck hochgearbeitet und die Chancen, die Amerika bietet, genutzt hat. Dabei ist er intelligent und eloquent. Das macht ihn ungeheuer attraktiv. Gleichzeitig hegt er, genauso wie Trump, persönlich keine großen Sympathien für die sogenannte religiöse Rechte.

Donald Trump und sein designierter Vizepräsident J. D. Vance
Foto: IMAGO/Annabelle Gordon (www.imago-images.de) | Der Historiker Manfred Berg meint: J. D. Vance hege, genauso wie Trump, keine großen Sympathien für die sogenannte religiöse Rechte, deren Unterstützung Trump 2016 noch ins Weiße Haus verholfen hatte.

Die Trump 2016 allerdings ins Weiße Haus verhalf…

Richtig. Vor acht Jahren brauchte Trump noch einen Vizepräsidenten, nämlich Mike Pence, der ihm die Stimmen des religiösen Lagers, insbesondere der Evangelikalen, sichern würde. Da hat Trump jetzt den Rücken frei, da er die Forderungen dieser Wählerklientel in seiner ersten Amtszeit erfüllt hat.

Und nun braucht er dieses religiöse Lager gar nicht mehr?

Er braucht es schon, aber wo sollten die Evangelikalen sonst hingehen? Die wählen keinen Demokraten, der für Abtreibung und die gleichgeschlechtliche Ehe ist. Trump hat sie in seinem Camp. Wenn man einmal deren Perspektive einnimmt, sieht man: Sie sind mit Donald Trump hochzufrieden. Er hat das geschafft, was weder Ronald Reagan noch Bush senior noch Bush junior gelungen ist. Alle haben sie versprochen, konservative Richter am Supreme Court zu ernennen und „Roe v. Wade“ zu kippen. 

Doch erst Trump hat es geschafft.

Genau. Deswegen findet ja die Verklärung in diesen Milieus statt – eine Verklärung, die durch das überstandene Attentat noch einmal eine neue Dimension erreicht hat. Aus einer Vernunftehe ist relativ schnell eine Liebesheirat geworden. Wenn Trump die „working class“ erreichen will, die ja das Rückgrat der „Make America great again“-Bewegung bildet, wenn er diese nationalistisch-populistische Bewegung weiterführen will, dann ist mit Frömmelei ohnehin nicht so viel zu machen. Das sind Menschen, die kennen die Abgründe des Lebens. Die wollen keine moralischen Ermahnungen hören.

Dieser nationalistische Populismus, durch den sich die Republikaner nun definieren, wie Sie schildern, wodurch zeichnet der sich aus?

Allen voran durch ökonomischen Nationalismus. Vance steht da voll und ganz hinter Trump. Das Versprechen besteht im Grunde genommen aus Protektionismus, gepaart mit einer Begrenzung der Einwanderung. So sollen die Probleme der „working class“ und der Mittelschicht gelöst werden. Das kann man auch als eine Revolte gegen die Globalisierung sehen. Dazu kommt außenpolitisch noch der Isolationismus, das heißt Amerikas Sicherheit steht an erster Stelle, man mischt sich im Rest der Welt nicht ein. Und die Europäer sollen gefälligst für ihre eigene Sicherheit sorgen.

"Amerikas Sicherheit steht an erster Stelle, man mischt sich im Rest der Welt nicht ein. Und die Europäer sollen gefälligst für ihre eigene Sicherheit sorgen"

Das ist meilenweit entfernt von der Partei der Bushs, Romneys oder Cheneys…

Die Namen, die Sie nennen, standen für das, was man in Amerika den „Country Club“-Republikanismus nannte. Die haben aber völlig die Kontrolle verloren. Die Republikaner sind jetzt eine komplett andere Partei. 

Hat diese „alte Garde“ überhaupt noch eine Chance, in der Partei irgendwann mal wieder Fuß zu fassen? Oder ist deren Zeit unwiederbringlich abgelaufen?

Das ist schwer zu sagen. In der amerikanischen Geschichte wechseln Parteien in bestimmten Zyklen ihre Anhängerschaft, ihre ideologische Ausrichtung. Der Fachbegriff unter Politologen dazu lautet „Realignment“. Die Republikaner wurden beispielsweise in den 1850er Jahren als Anti-Sklaverei-Partei gegründet, während die Demokraten die Repräsentanten der Südstaaten, der Sklavenhalter-Aristokratie waren. Noch bis in die 1970er Jahre hinein war der amerikanische Süden eine Bastion der Demokraten. Wegen der liberalen Bürgerrechtspolitik der demokratischen Regierungen seit Kennedy, im Grunde schon seit Truman, kehrten die weißen Wähler im Süden der Partei ganz allmählich den Rücken und wechselten schließlich zur Partei Ronald Reagans und jetzt eben Donald Trumps.

Der Historiker Manfred Berg
Foto: TOBIAS SCHWERDT | Manfred Berg ist seit 2005 Professor für Amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung, die Rassenbeziehungen in den USA, ...

Unter den Demokraten ist die Ablehnung Trumps ja groß. Sehen Sie die Gefahr, dass es im November ähnlich laufen könnte wie 2020? Nur dass diesmal die Demokraten versuchen werden, die Rechtmäßigkeit von Trumps Sieg in Zweifel zu ziehen?

Es wird sicher nicht so ablaufen wie 2020. Was nach der Wahl geschah, war ein Putschversuch – der von Donald Trump orchestriert wurde. Das war ein Aufstand gegen die Verfassungsordnung der Vereinigten Staaten. So etwas ist von den Demokraten nicht zu erwarten. Gleichzeitig erleben wir es, dass beide Parteien im Grunde genommen sagen, es geht um alles oder nichts. Und Historiker wissen: Wahlen, deren Ausgang für den Verlierer ganz und gar nicht akzeptabel ist, können potenziell auch zu einem Bürgerkrieg führen. Dass es Demonstrationen gegen eine zweite Trump-Präsidentschaft geben wird, davon bin ich absolut überzeugt. Ob diese in politischer Gewalt ausarten, wird auch davon abhängen, ob das Wahlergebnis wieder sehr knapp ist. Sobald Trump wieder Präsident ist, steht ihm die gesamte Exekutivgewalt zur Verfügung. Ich sehe in jedem Fall sehr turbulente Zeiten auf uns zukommen.

Auch Minderheiten werden einen entscheidenden Anteil am Wahlausgang haben. Hier gab es zuletzt die Tendenz, dass auch Hispanics, sonst eine sichere demokratische Wählerbasis, mehr und mehr zu Trump tendieren.

Das ist eine Entwicklung, die viele Politologen noch bis vor zehn Jahren für völlig unmöglich gehalten haben: Die Republikanische Partei, die ja stets zu weit über 80 Prozent eine weiße Partei war, erreicht jetzt tatsächlich viele Angehörige von Minderheiten. Hispanics, Afroamerikaner…

Woran liegt das?

Dafür ist meines Erachtens nach weniger die Religion als die nationalistische, protektionistische Botschaft der Hauptgrund. J. D. Vance hat es in seiner Rede beim Parteitag der Republikaner eigentlich treffend auf den Punkt gebracht: „America first, whatever the colour of their skin.“ Amerikaner zuerst, unabhängig von ihrer Hautfarbe. Eine solche Botschaft kommt an, auch bei Minderheiten. Besonders in den USA neigt gerade das akademische Umfeld dazu, zu glauben, Minderheiten sind Opfer von Unterdrückung und müssen deshalb links sein. Das stimmt aber gar nicht. Das ist totaler Unsinn. Wir wissen aus der Einwanderungsgeschichte, dass Minderheiten, die neu im Land angekommen waren, oft mehr Einwanderung ablehnten, weil sie dadurch ihren eigenen Status bedroht sahen. Afroamerikaner waren immer sehr einwanderungsskeptisch, weil sie diejenigen waren, die historisch betrachtet als allererste um niedrig bezahlte Arbeitsplätze und billigen Wohnraum konkurrieren mussten.

"Besonders in den USA neigt gerade das akademische Umfeld dazu, zu glauben, Minderheiten sind Opfer von Unterdrückung und müssen deshalb links sein. Das stimmt aber gar nicht"

Die Demokraten drohen eine weitere Minderheitengruppe zu verlieren, die zumindest in einem Bundesstaat, in Michigan, entscheidend sein dürfte: die Muslime. Sie werfen Biden vor, einen Genozid an den Palästinensern zu unterstützen. Gleichzeitig haben die Demokraten mit einem radikalen Flügel zu kämpfen, der sich offen antisemitisch äußert. Eine offene Flanke der Partei?

Absolut. Ich habe das selbst jüngst bei Reisen in die USA erlebt. Gerade im linksliberalen Milieu jüngerer Leute scheint die alte, traditionelle Verbindung der Demokraten zu Israel gekappt. Israel ist nicht mehr die Heimstatt der Holocaust-Überlebenden, sondern ein rassistischer Apartheidstaat, gegen den man kämpfen muss. Unter Druck steht die Partei dadurch, dass es zum ersten Mal auch eine relevante, strategisch positionierte muslimische Wählerschaft gibt, speziell in Michigan. Die werden nicht unbedingt Trump wählen, weil sie wahrscheinlich auch mitgekriegt haben, dass der Israel unterstützt. Aber sie werden dann einfach zu Hause bleiben.

Eine Frage, die viele nach dem Attentat beschäftigt, ist die der politischen Verantwortung. Man wies sich gegenseitig die Schuld zu, zumindest für das Klima, für die politische Lage, die das begünstigt haben mag. Sehen Sie beide Seiten in gleichem Maße verantwortlich für dieses Klima – oder sticht die eine hervor? 

Die Politikwissenschaft führt schon länger eine Debatte darüber, ob die Polarisierung symmetrisch oder asymmetrisch verlaufen ist. Ob sich an beiden Enden des politischen Spektrums eine Radikalisierung vollzogen hat, oder doch ganz überwiegend auf der Rechten. Ich bin der Auffassung, dass auch die amerikanische Linke, vor allem die identitätspolitische Linke, die berühmten Kulturkriege mit ideologischem Feuereifer ausgefochten hat. Man muss ganz deutlich sagen: Sie hat schon sehr zur Polarisierung beigetragen. Wenn man einfachen weißen, hart arbeitenden Amerikanern immer nur sagt, dass sie Rassisten seien und endlich ihre weißen Privilegien aufgeben müssten, dann sollte man sich nicht wundern, dass die irgendwann einmal richtig wütend werden. Dennoch: Die Radikalisierung, insbesondere die Bereitschaft zur Gewaltanwendung, ja der reale Grad der Bewaffnung, ist auf der Rechten sehr viel stärker ausgeprägt.

"Auch die identitätspolitische Linke hat die berühmten Kulturkriege mit ideologischem Feuereifer ausgefochten"

Ist denn der Wunsch oder der Wille, diese Polarisierung zu überwinden, überhaupt noch vorhanden? 

Die Polarisierung und die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft spiegeln im Grunde genommen die fundamentale Auseinandersetzung darüber wider, wer die nationale Identität der USA eigentlich definiert. Die Lager stehen sich in vieler Hinsicht sehr unversöhnlich gegenüber, was teilweise auch daran liegt, dass die lebensweltlichen Berührungspunkte kaum noch gegeben sind. Es gibt sogar Studien, die belegen, dass der Gedanke, die eigenen Kinder könnten einen Partner heiraten, der sich mit der gegnerischen Partei identifiziert, vielen Amerikanern mehr Unbehagen bereitet als interethnische Mischehen oder gleichgeschlechtliche Beziehungen. Ich bin ein Stück weit pessimistisch, da diese Polarisierung ja das Ergebnis fundamentaler sozialer, kultureller, ökonomischer und politischer Prozesse war. Und die kann man nicht überwinden, indem man endlich mal wieder an die nationale Einheit appelliert. Man kann es aber sehr wohl vermeiden, noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Was im Augenblick verhindert werden muss in den USA, ist, dass diese zugespitzte Polarisierung zu einer Situation eskaliert, die man als neuen Bürgerkrieg bezeichnen könnte.

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Wenn es wirklich fundamental um die Frage geht, wer die Amerikaner als Nation sein wollen, und sich da zwei Modelle unvereinbar gegenüberstehen, dann lässt sich diese Frage doch gar nicht beantworten, ohne einen großen Teil der Bevölkerung auszuschließen?

Ja, so sieht es leider aus. Nun muss man ehrlicherweise sagen, die USA waren ja immer schon ein Land der Einwanderung. Sie haben sich sehr viel darauf eingebildet, eine Art Schmelztiegel der Ethnien und der Kulturen zu sein. Auch wenn dieses Bild nicht ganz die historische Wirklichkeit trifft, ist es auch nicht völlig falsch. Ich denke, die Vereinigten Staaten, genauso wie Westeuropa, stehen vor einer Herausforderung, deren Tragweite sie noch gar nicht richtig begriffen haben.

Nämlich?

Der alte, sich als ethnisch relativ homogen verstehende Nationalstaat, wie wir ihn aus dem 20. Jahrhundert kennen, existiert so nicht mehr. Wir müssen die Frage beantworten: Wie schaffen wir es, sowohl die Demokratie als auch die soziale Solidarität in einer multiethnischen Gesellschaft ohne dominante Bevölkerungsgruppen zu gestalten? Dafür gibt es in der modernen Geschichte kaum ein gutes Beispiel. Und mich beunruhigt es in vieler Hinsicht, dass nicht einmal die USA mit ihrer langen, durchaus auch erfolgreichen Geschichte der Einwanderung, darauf bisher eine Antwort gefunden haben.

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