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Dschihadismus: Die Gefahr ist mitten unter uns

Der Dschihadismus ist eine reale Bedrohung. Unsere Gesellschaft muss endlich offen darüber diskutieren, welche Konsequenzen daraus zu ziehen sind.
Gedenken an Opfer des Terroranschlags in Berlin 2016
Foto: Bernd von Jutrczenka (dpa) | Ein Menetekel für den deutschen Rechtsstaat: Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016.

Der Umgang mit dschihadistischen Terroranschlägen im deutschsprachigen Europa ist wohl ohne große Übertreibung als schwierig zu bezeichnen – medial, politisch, aber auch für die Forschung. Die Anzahl von dschihadistisch motivierten Terroranschlägen mit tödlichem Ausgang hat in den vergangenen Jahren auch im deutschsprachigen Europa – konkret in Österreich und Deutschland – zugenommen. Ein Menetekel für den deutschen Rechtsstaat war der Fall „Anis Amri“. Als Straftäter in Italien und „Flüchtling“ nach Deutschland eingereist, konnte „Amri“, obwohl circa 60 Behörden in Deutschland seine Gefährlichkeit erkannten, im Dezember 2016 einen Terroranschlag auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin verüben.

Der Täter, der mit einem gekaperten LKW 16 Menschen ermordete und Dutzende verletzte, hatte 14 Identitäten. Der Tunesier, geboren und aufgewachsen in der Region Kairouan, einer Hochburg des Dschihadismus an der Grenze zu Libyen, kam als angeblicher Flüchtling nach Deutschland, nachdem er zuvor in Italien im Gefängnis gesessen hatte. Möglich gemacht hatte das die durch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel angeordnete Willkommenskultur. Ebenso fehlte ein Datenabgleich auf EU-Ebene. „Amri“ konnte so untertauchen, obwohl er äußerst auffällig war.

Weitere Anschläge mit Todesfolge

Merkwürdigerweise wurde der Status der Gefährlichkeit, die von ihm ausging, heruntergestuft. Die Begründung im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum lautete: Er arbeite ja als professioneller Drogendealer in Berlin. Der umfassende, im Juli 2021 veröffentlichte, 1.873 Seiten umfassende Abschlussbericht des Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags hat zahlreiche Versäumnisse festgestellt – gerade auch mit Blick auf die sogenannte „Willkommenskultur“ und die Frage nach einem „Staatsversagen“ in diesem Fall.

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Es gab weitere Anschläge mit Todesfolge in Deutschland und Österreich seit 2015: So in Hamburg am 28. Juli 2017 in einem Supermarkt, dann mitten in Dresden unweit der Frauenkirche am 4. Oktober 2020 in Form eines  Angriffes auf ein homosexuelles Paar, das als solches zu erkennen und dort touristisch unterwegs war. Der Täter in Dresden war  im Herbst 2015, mitten in der „Flüchtlingswelle“, als unbegleiteter Flüchtling aus Syrien nach Deutschland gekommen. Er sah Homosexuelle als „Feinde Gottes“ an, bereits seit Dezember 2017 galt er als islamistischer Gefährder.

Ein Blick nach Österreich: Dort befand sich Wien am 2. November 2020 im Ausnahmezustand. Mitten im Ausgehviertel am Schwedenplatz verloren vier Menschen bei einem Anschlag ihr Leben, mehr als 20 weitere wurden  teilweise schwer verletzt. Der Terrorist hatte offenbar auch vor, in die historische Ruprechtskirche einzudringen, was ihm aber nicht gelang. Die Teilnehmer eines gerade stattfindenden Gottesdienstes versperrten, als sie die ersten Schüsse hörten, die Zugänge und löschten das Licht. Wie sich schließlich herausstellte: Der Täter Kujtim Fejzulai war den Behörden gut bekannt – sogar als (verhinderter) IS-Terrorist. Der 20-Jährige mit albanischer Abstammung war in Österreich geboren und in Wien aufgewachsen.

Fragen von Zurechnung und Schuldfähigkeit

Immer wieder geht es in diesen Fällen um die Frage von Zurechnung und Schuldfähigkeit. Ein 27-jähriger Syrer, 2014 als Flüchtling eingereist und als solcher seit 2016 anerkannt, sticht  am 6. November 2021 in einem ICE von Hamburg nach Passau bei Regensburg wahllos auf Passanten ein, verletzt vier Passanten dabei schwer. Er wohnt in einem Passauer Studentenwohnheim. Zunächst wird die Tat erstaunlich schnell als „wahnhaft“ eingestuft, der Täter als psychisch krank bezeichnet. Später teilt die Generalstaatsanwaltschaft mit, dass der Täter Propagandavideos des „Islamischen Staates“ (IS) konsumiert habe, etwa über die Sozialen Medien. Der Täter gilt aber als schuldunfähig und wird in die Psychiatrie eingewiesen.

Im „Fall Würzburg“ verlief  die Entwicklung gegenteilig. Ein zunächst als 24-jährig, später als 32-jährig erkannter somalischer Staatsbürger tötet am 25. Juni 2021 im Zentrum von Würzburg zwei Personen. Der Täter war im Mai 2015 nach Deutschland gekommen, lebte von Oktober 2019 an in einem Obdachlosenheim in Würzburg und war bereits wegen einiger Streitigkeiten polizeibekannt. Laut zwei Zeugen, von denen einer von den Behörden als verlässlich eingeschätzt wurde, soll der Täter während der Ausführung der Tat „Allahu Akbar“ gerufen haben. Später habe er im Gewahrsam vom „Dschihad“ gesprochen. Die Tat gilt  zunächst als islamistisch motiviert, der Täter wird nun aber ebenfalls in eine Psychiatrie eingewiesen.

Es sind Muster erkennbar

In der Vermischung von psychischer Auffälligkeit und Extremismus ist offenbar ein entscheidendes Muster zu erkennen. Beides schließt sich nicht aus. Im Gegenteil: Offenbar verstärkt sich so die Tatmotivation, der Wille zur Gewalt gegenüber unschuldigen Menschen. In einem im Juni veröffentlichten Report stellt Europol, die Polizeibehörde der EU, fest, dass von den Einzeltätern, auf deren Konto 2020 europaweit zehn islamistische Attacken mit zwölf Toten gingen, gleich mehrere „eine Kombination aus extremistischer Ideologie und mentaler Erkrankung“ aufgewiesen haben. Bei solchen Spontan-Tätern sind offenbar stärkere psychische Aufälligkeiten zu beobachten.

Was ist zu dem Faktor „extremistische Ideologie zu sagen? Hier ist vor allem zu untersuchen, inwieweit sich der „Islamische Staat“ (IS) als Bezugspunkt für Anschläge weiterentwickelt. Auch wenn die Organisation geschwächt ist, wird sie mit Sicherheit bestrebt sein, neue Radikalisierte und bestehende Sympathisanten zum „individuellen Dschihad“ anzustacheln. Damit wird sie wahrscheinlich auch hierzulande weiterhin Erfolg haben. Es besteht die Aufgabe, die Netzwerke genauer zu analysieren, die verborgenen Wege der islamistischen Radikalisierung präventiv zu beleuchten und die Effizienz von Deradikalisierungsprogrammen genauer zu prüfen. Umso verstörender wäre es nun, etwa angesichts der Situation in Afghanistan, die „Willkommenskultur“ von 2015/16 zu revitalisieren. Fatal wäre es auch, aus Gründen der politischen Korrektheit, keine Debatte über die Täterherkunft zu führen, wie es nach den Anschlägen  von „Würzburg“ und „Passau“ der Fall war.

Alle Täter offenbar streng gläubig

Fakt ist auch: Alle erwähnten Täter waren offenbar streng gläubig und beriefen sich bei ihren Taten auf den Islam. Die Moscheen von Berlin, Hamburg und Wien waren den Behörden bereits vor den Taten als Orte potenzieller Radikalisierung bekannt und hätten, in manchen Fällen wie zum Beispiel der Berliner Fussilet-Moschee sogar geschlossen werden sollen. Auch in Österreich gab es bereits 2018 Versuche, radikale Moscheen zu schließen, jedoch wurde dieser Beschluss bald darauf gerichtlich wieder aufgehoben. Hier sollen keine Kausalzusammenhänge zwischen Moschee-Besuchen und Radikalisierung allgemein konstruiert werden. Dennoch sticht dieser Umstand ins Auge und entkräftet die Kategorisierung der Anschläge als „unreligiöse Gewalttat“.

Ausnahmslos alle Täter waren auch amtsbekannt. Fejzulai, der Täter von Wien, war wegen seiner Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung inhaftiert. Trotzdem wurde sowohl vor dem Anschlag von Wien, wie zuvor in Berlin und Dresden die Observation irgendwann eingestellt beziehungsweise nur sporadisch durchgeführt. Die virtuell, im Fall von Berlin und Wien auch analog äußerst gut vernetzten Täter standen am stärksten im Visier des Staatsschutzes. Gleichwohl wurde die Gefahr, die von ihnen ausging, aus verschiedenen Gründen nicht richtig eingestuft. Informationen, die Warnhinweise hätten sein können, wurden teils nicht beziehungsweise nicht schnell genug verarbeitet.

Die Debatte um die eingangs angesprochene Polarisierung unserer Gesellschaften dürfte nicht abebben, zumal der Migrationsdruck steigen wird und zum Beispiel aus Afghanistan neue (Flucht-)Bewegungen kommen werden.

Bestehende Risiken realistisch einschätzen

Wie sich an den behandelten Fällen zeigt, besteht nach wie vor das Risiko, dass sich Menschen etwa in Asylbewerberheimen und durch fehlende Perspektiven (weiter) radikalisieren beziehungsweise irgendwann ihrer radikalen Gesinnung durch Gewalttaten Ausdruck verleihen. Die offensichtliche Vermengung von Traumatisierung, psychischer Störung und politischer Radikalisierung macht jedoch jede schnelle politische Reaktion und rechtsstaatlich angelegte Folgedebatten über die Rolle von Polizei und Justiz schwierig, zumal, wenn Medien das Wort „Behördenversagen“ in den Mund nehmen. In Zentralen Erstaufnahmeeinrichtungen, etwa in Hamburg, wird inzwischen simuliert, dass ein Person wie „Amri“ als Asylbewerber vorstellig werden könnte. Die Sicherheitsbehörden wussten in allen Fällen von einer Gefährlichkeit der Täter „mitten unter uns“. Darüber ist nun eine Debatte notwendig.


Der Autor hat kürzlich zusammen mit Paul Schliefsteiner zu diesem Thema eine Untersuchung veröffentlicht: „Einzeltäter, radikal, potenziell labil und eigentlich ,gar nicht mehr da'. Eine vergleichende Fallstudie der dschihadistischen Terroranschläge mit tödlichem Ausgang in Deutschland und Österreich seit 2015. Sie ist abgedruckt im aktuellen Jahrbuch Extremismus & Demokratie (Nomos Verlag, 2021).

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