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Andrij Waskowycz: „Der Wille der Ukrainer ist ungebrochen“

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs koordiniert Andrij Waskowycz humanitäre Initiativen beim Weltkongress der Ukrainer. Der ehemalige Chef der ukrainischen Caritas verrät im „Tagespost“-Interview, warum die Ukrainer auch weiterhin Putin-Russlands Angriffen und Drohgebärden widerstehen.
Alltag mitten im Krieg
Foto: David Goldman (AP) | Alltag mitten im Krieg: Ein Fischer beobachtet am Stadtrand von Kiew wie Rauch nach einem russischen Raketenangriff auf eine Militäreinheit im Bezirk Wyschhorod aufsteigt.

Herr Waskowycz, beinahe ein halbes Jahr dauert nun schon Russlands völkerrechtswidriger Angriffskrieg gegen die Ukraine an. Wie sieht das Leben der Ukrainer angesichts der nicht nachlassenden russischen Aggression aus?

Die Menschen in der Ukraine leben bereits seit 2014 im Krieg. Allerdings waren die militärischen Kriegshandlungen bis zum 24. Februar 2022 vornehmlich auf die östlichen Gebiete der Ukraine beschränkt. Mit Beginn der neuerlichen Großoffensive Russlands im Februar dieses Jahres und dem massiven Beschuss ziviler Objekte in ukrainischen Städten im ganzen Land hat sich der Krieg und die Bedrohung durch den Krieg auf die gesamte Ukraine ausgeweitet. Über zwölf Millionen Menschen waren gezwungen, ihre Heimatorte zu verlassen und in vermeintlich sicherere Landesteile der Ukraine zu flüchten oder im Ausland Schutz zu suchen. Angesichts der Schreckensbilder von Butscha und Irpin, dem Wüten der Okkupationstruppen in den besetzen Gebieten fliehen die Menschen sowohl vor dem Raketenbeschuss als auch vor der Gefahr, unter das brutale russische Okkupationsregime zu geraten, das sich zum Ziel gesetzt hat, jeden Ausdruck ukrainischer Identität auszumerzen. Der Krieg prägt den Alltag der Menschen in allen Teilen der Ukraine. Er ist beständig präsent im Bewusstsein oder verdeckt im Unterbewusstsein der Menschen, die gezwungen sind, im Spannungsfeld zwischen scheinbarer Normalität und Ausnahmezustand zu leben. In der ukrainischen Hauptstadt Kiew, in der ich lebe, gibt es beinahe täglich ein- bis zweimal Luftschutzalarm, so dass die Menschen in beständiger Anspannung leben müssen.

Vor Kriegsbeginn vermuteten nicht wenige ausländische Beobachter, dass Putin-Russland sich der Ukraine in einer Art Blitzkrieg bemächtigen würde – das Gegenteil ist eingetreten. Welche Gründe sehen Sie für den weltweit bewunderten zähen Widerstand der Ukrainer bei der Verteidigung ihrer Heimat?

Andrij Waskowycz
Foto: Stephan Baier | Andrij Waskowycz ist Leiter des Büros für die Koordinierung humanitärer Initiativen des Weltkongresses der Ukrainer. Zuvor war er Präsident der Caritas Ukraine und auch zeitweise Vizepräsident der Caritas Europa.

Das ukrainische Volk hat über Jahrhunderte erbittert für seine Unabhängigkeit und Freiheit gekämpft und selbst als Volk ohne eigenen Staat, sich zu behaupten und seine nationale Identität zu bewahren gewusst. Die Ukrainer haben eine lange Tradition des Kampfes gegen jedwede Besatzer ihres Landes: In den Reihen der Roten Armee leisteten ukrainische Soldaten und Offiziere einen wesentlichen Beitrag zum Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg, das ukrainisches Territorium okkupiert hatte. Nach dem Zweiten Weltkrieg führten ukrainische Untergrundkämpfer noch bis Mitte der fünfziger Jahre erbitterten Widerstand gegen das sowjetrussische Okkupationsregime in den westlichen Gebieten der Ukraine und konnten nur durch eine konzertierte Aktion des NKWD mit militärischen Einheiten der benachbarten sozialistischen Staaten besiegt werden. Der Wille des ukrainischen Volkes, sich gegen Eindringlinge zu behaupten, ist auch heute ungebrochen: Die Menschen verteidigen ihre Familien, ihre Häuser, ihre Straßen, ihre Städte, ihre Heimat, und zwar in dieser hierarchischen Reihenfolge.  Im russischen Angriffskrieg sehen sie den Versuch, die Ukrainer als Nation auszulöschen und sich das ukrainische Territorium einzuverleiben. Die Ukrainer kämpfen also um ihr Überleben als Staat und Volk. Sie haben keine andere Wahl, als erbittert Widerstand zu leisten. Sie sind sich bewusst, dass eine militärische Niederlage ihnen nicht nur ihre Freiheit nimmt, sondern sie in ihrer Existenz bedroht.

"Die Rückkehr zum Status quo vor dem 24. Februar 2022
kann für die Ukraine keine annehmbare Lösung sein,
da es Russland eine „Verschnaufpause“ gewähren
und neue Angriffe zeitlich nur aufschieben würde"

Nach dem Scheitern des Vorstoßes nach Kiew sowie letztendlich der gesamten Blitzkriegsplanung der russischen Armee will sich Putin nun vor allen den Donbass endgültig unter den Nagel reißen und betreibt eine Kriegstaktik der „verbrannten Erde“. Nachdem er trotz allem seine Primärziele nicht mehr erreichen kann – was hat er nun stattdessen mit der Ukraine vor? Und welcher Ziele hat sich die Ukraine in diesem ihr aufgezwungenen Krieg verschrieben?

Russlands strategisches Ziel ist die Einverleibung und Unterwerfung der gesamten Ukraine und - erklärterweise - die Vernichtung des ukrainischen Volkes als Nation: Dieses Ziel ist mit den Begriffen „Denazifizierung und Demilitarisierung“ der Ukraine beschrieben. Mit „Denazifizierung“ ist gemeint, dass jeder nationalbewusste Ukrainer ein „Nazi“ sei, den es auszulöschen gelte. Diesem Oberziel sind alle anderen Ziele unterstellt. Dabei spielt selbst der zeitliche Rahmen, dieses Ziel zu erreichen, sichtbar nur eine untergeordnete Rolle. Russland rechnet mit der Ermüdung des Westens in der Unterstützung der Ukraine und damit, dass es als autoritärer Staat, den längeren Atem hat, seine Ziele zu erreichen. Daher wird Russland bei Nachlassen der Hilfe des Westens für die Ukraine und Schwächung der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit Verhandlungen anbieten, die den erreichten Status quo festschreiben, um nach einer Atempause weitere Gebiete einzunehmen. Die Ukraine hingegen sieht die historisch einmalige Chance, sich in diesem Krieg, mit Hilfe der westlichen Staatengemeinschaft endgültig aus dem Würgegriff Russland zu lösen und den Weg für die Integration in die Europäische Union und NATO, und damit für eine demokratische Entwicklung freizumachen. Dazu muss die Ukraine allerdings die russischen Okkupationstruppen aus allen besetzten Territorien, einschließlich der Halbinsel Krim, verdrängen. Die Rückkehr zum Status quo vor dem 24. Februar 2022 kann für die Ukraine keine annehmbare Lösung sein, da es Russland eine „Verschnaufpause“ gewähren und neue Angriffe zeitlich nur aufschieben würde.

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Am 22. Juli wurde in Istanbul das Getreideabkommen zwischen der Ukraine und Russland verabschiedet - ein kleiner Hoffnungsschimmer für weitere Verhandlungen?

In der ukrainischen Gesellschaft herrscht große Skepsis gegenüber Verhandlungen und Vereinbarungen mit Russland: Russland ist kein glaubwürdiger Verhandlungspartner und hält sich nicht an Vereinbarungen, die es unterzeichnet hat. Gegenüber der Ukraine ist Russland immer wieder vertragsbrüchig geworden - Verhandlungen machen daher nur Sinn hinsichtlich strategisch zweitrangiger, technischer, Fragen, wie Getreidelieferungen und dem Austausch von Kriegsgefangenen. Frieden kann auf dem Verhandlungsweg nicht erreicht werden, solange Russland das Ziel verfolgt, die ukrainische Staatlichkeit zu zerstören und das ukrainische Volk zu unterjochen oder gar vollständig zu vernichten. Seien wir ehrlich: Was wäre Inhalt solcher Verhandlungen? Oder sarkastisch formuliert: Welcher Grad an Einschränkung staatlicher Souveränität und Zerstörung ukrainischer Identität wäre der Ukraine zumutbar? Dies ist eine existenzielle Frage für das ukrainische Volk. Daher sehen die Ukrainer die Lösung nur einer Niederlage Russlands in dessen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Und sie sind überzeugt, dass sie diese Niederlage mit Hilfe und Unterstützung ihrer westlichen Partner herbeiführen können.

"Die Ukraine sieht sich heute an vorderster Front
in der Verteidigung der wertebasierten globalen Ordnung
gegen den Herrschaftsanspruch autoritärer Staaten"

Sie sind als ehemaliger Präsident der Caritas in der Ukraine sehr gut mit den Menschen vor Ort vernetzt. Was brauchen die Ukrainerinnen und Ukrainer in der gegenwärtigen Situation am meisten gerade von westlicher Seite?

Die Ukraine sieht sich heute an vorderster Front in der Verteidigung der wertebasierten globalen Ordnung gegen den Herrschaftsanspruch autoritärer Staaten. Für Russland wäre die Eroberung der Ukraine nur ein erster Schritt zur Wiedererrichtung der Dominanz über die Staaten, die einst zum Machtbereich der Sowjetunion gehört haben, wie etwa den baltischen Staaten, Polen, Slowakei, Tschechien, aber auch das Gebiet der ehemaligen „DDR“. Daher kann die Gefahr eines künftigen russischen Angriffs selbst auf Territorien von NATO-Staaten nicht ausgeschlossen werden. Das ist auch der Grund, warum viele Staaten bereit sind, die Ukraine zu unterstützen. Die Ukrainer brauchen diese Unterstützung dringend im politischen, im wirtschaftlichen und im humanitären Bereich. Aber vor allem braucht sie Unterstützung im militärischen Bereich. Sie braucht „schwere Waffen“, um sich gegen die Übermacht des Nachbarn zu verteidigen. Die Ukraine ist dankbar für die Hilfe und Unterstützung, die sie bisher erhalten hat, die es ihr ermöglicht hat, bisher dem russischen Angriff Widerstand zu leisten, trotz des hohen Blutzolls, den sie bisher in diesem Krieg erbringen musste.  Das ukrainische Volk hat den Willen, den Freiheitskampf weiter fortzusetzen und durchzustehen. Nun kommt es darauf an, ob die Freie Welt bereit ist, die Ukraine in diesem Kampf bis zu der vollständigen Befreiung aller international anerkannten ukrainischen Gebiete zu unterstützen und zu begleiten.

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