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Abtreibung: Der übergriffige Staat 

Wie die Ampelregierung vorgeburtliche Kindstötungen zu einer normalen Gesundheitsdienstleistung machen will. Eine Analyse.
"Gehsteigbelästigung"
Foto: IMAGO/Sascha Steinach (www.imago-images.de) | Faktisch existiert sie zwar nicht, doch verboten ist sie nun: die "Gehsteigbelästigung"

Politik ist bisweilen ein schmutziges Geschäft. Wie schmutzig, das konnten die Bürgerinnen und Bürger vergangenen Freitag wieder beobachten. Am letzten Sitzungstag vor der Sommerpause stand im Deutschen Bundestag die „Zweite und Dritte Lesung“ des „Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Änderung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes“ der Bundesregierung auf dem Programm. Ab 13.30 Uhr debattierten die Volksvertreter 40 Minuten lang ein Phänomen, das gar nicht existiert.

Getauft auf den Namen „Gehsteigbelästigung“, musste das Nichtexistente zum Leben erweckt werden. Und so logen die Abgeordneten der Ampelkoalition in der Debatte das Blaue vom Himmel und erfanden der Reihe nach Räuberpistolen von „übergriffigen sogenannten Lebensrechtlern“ (Katrin Hellig-Plahr, FDP), von denen schwangere Frauen auf ihrem Weg in staatlich anerkannte Beratungsstellen „angepöbelt, bedrängt oder belästigt“ (Denise Loop, Bündnis 90/Die Grünen) würden. Hinweise aus der Unionsfraktion, denen zufolge weder die sechzehn Bundesländer in einer vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend durchgeführten Befragung, noch große Träger von Beratungsstellen „konkrete Fälle von Belästigungen im Sinne des Gesetzentwurfes“ gemeldet hätten, ließen die Ampelkoalitionäre ungeniert abprallen: „Was erwarten Sie eigentlich von Frauen in Konfliktsituationen?“, fragte die SPD-Abgeordnete Katja Mast. „Erwarten Sie, dass die Frauen dann auch noch vor Gericht gehen und sich selbst in die Öffentlichkeit zerren und sagen, ich bin belästigt worden, ich bin unter Druck gesetzt worden?“

Strafanzeigen? Gibt es nicht

Ja, genau das dürfte man erwarten. In Deutschland lassen sich Kläger für Alles finden. Selbst an Schwerstkranken, die sich für ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ stark machen und mit denen Sterbehilfeorganisationen die Justiz auf Trab halten, herrscht kein Mangel. Vergleichbares gilt für Abtreibungsaktivisten. Es gibt Dutzende Frauen, die sich öffentlich mit der Abtreibung eines Kindes brüsten, in Sammelbänden genauso wie in sozialen Netzwerken. Manche mögen auf diese Weise bloß die Zahl ihrer „Follower“ steigern wollen. Die Mehrzahl versteht dies jedoch als Teil des politischen Kampfes um ein „Recht auf Abtreibung“. Was sollte solche Aktivisten daran hindern, Lebensrechtler, die ihnen einen „unfassbaren Spießrutenlauf“ aufzwingen (Carmen Wegge, SPD) oder gar mit „einem blutigen Fötus vor sie springen“ (Josephine Ortleb, SPD) anschließend zu verklagen? Wenn es also keine einzige Schwangere gibt, die gegen eine Belästigung auf dem Weg zur Beratungsstelle klagt, dann, weil es offenbar niemanden gibt, den sie verklagen könnte.

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„Erstaunlicherweise gibt es auch keine Strafanzeigen der Einrichtungen“, weiß Alexandra Linder, Vorsitzende des Bundesverband Lebensrecht (BVL). Weder einer Abtreibungsklinik noch einer Beratungsstelle. Die befinden sich aber gar nicht in einem Schwangerschaftskonflikt und hätten wohl auch keine Skrupel, Lebensrechtler wegen Beleidigung oder gar Nötigung zu verklagen, sofern sich diese denn belegen ließe. Was es gibt, sind Klagen von Lebensrechtlern, die sich von den Ordnungsbehörden in ihren Grundrechten zu Unrecht beschnitten sahen. Ergebnis: In bisher jedem Fall entschieden die Gerichte zugunsten der angeblich „militanten Personen“ (Katrin Hellig-Plahr, FDP).

Und das bis hinauf zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Das hatte im Mai vergangenen Jahres unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geurteilt: „Es gibt in einer pluralistischen Gesellschaft kein Recht darauf, von der Konfrontation mit abweichenden religiösen Vorstellungen oder Meinungen gänzlich verschont zu bleiben. Ein von politischen Diskussionen oder gesellschaftlichen Auseinandersetzungen unbeschwertes Inneres ist kein Belang, zu dessen Schutz der Staat Grundrechtspositionen einschränken darf. Unerheblich sind damit Störungen Dritter, die darin liegen, dass diese mit ihnen unliebsamen Themen konfrontiert werden. Erst recht ausgeschlossen sind Verbote zu dem Zweck, bestimmte Meinungsäußerungen ihres Inhalts wegen zu unterbinden“ (BVerwG 6 B 33.22).

Verstoß gegen die Meinungsfreiheit

Genau ein solches aber hat der Bundestag am Freitag mit den Stimmen von SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, Linken und Bündnis Sahra Wagenknecht, gegen die Stimmen von CDU/CSU und AfD beschlossen und Bannmeilen um Abtreibungskliniken und Beratungsstellen gezogen. Wer sich künftig innerhalb eines Radius von 100 Metern vor diesen Einrichtungen aufhält, um für schwangere Frauen und ihre ungeborenen Kinder zu beten oder gar, um für das Recht der Kinder auf Leben zu demonstrieren, begeht eine Ordnungswidrigkeit und kann mit einer Geldbuße von bis zu 5000 Euro belangt werden.

Man darf gespannt sein, ob sich die Gerichte der Rechtsauffassung der SPD-Abgeordneten Wegge anschließen werden, die in der Debatte die abenteuerliche Ansicht vertrat, die Einschränkung der Meinungsfreiheit von Lebensrechtlern sei „eher punktuell, da diese primär durch eine Orts- oder Zeitverlegung“ erfolge. Genauso gut ließe sich behaupten, Umweltschützer könnten überall für Flugverbote demonstrieren, nur eben nicht vor den Werkstoren von Standorten des Flugzeugbauers Airbus oder in Sicht- und Hörweite von Flugreisenden. Sich „explizit“ an Flugreisende oder Werksmitarbeiter zu wenden und „auf sie einzuwirken“, sei nicht durch Artikel 8 Absatz 1 Grundgesetz gedeckt.

Wie hatte es der Gießener Rechtswissenschaftler Steffen Augsberg bei der Expertenanhörung vor dem Familienausschuss des Bundestag formuliert? „Grundrechte müssen auch weh tun.“ Wo der Gesetzesentwurf „wirklich erforderliche Dinge regelt“, sei er „überflüssig“, da alle diese Dinge bereits „von der Rechtsordnung erfasst“ seien und von ihr „auf andere Weise geregelt“ würden. Wo er hingegen „Neues regelt“, sei er „übergriffig“. Dabei würden die „verfassungsrechtliche Direktiven bis an das Maß des Erträglichen und teilweise darüber hinausgehend ausgedehnt“.

Übergriffigkeit mit System

Bei Licht betrachtet hat die Übergriffigkeit der Ampelregierung System. Ob es um die Bekämpfung einer Atemwegsinfektion, die Wahl des Autos oder der Heizung geht, allein die Ampel weiß, was gut ist. Verantwortung, wenigstens für das eigene Leben, muss bei ihr niemand übernehmen. Nun soll die Verantwortungslosigkeit sogar auf den Intimbereich ausgedehnt werden. Deshalb will die Ampelregierung vorgeburtlichen Kindstötungen das Ungeheuerliche nehmen und sie zu einer gewöhnlichen Gesundheitsdienstleistung machen. Gerade so als ließe sich die Tötung eines unschuldigen und wehrlosen Menschen wie die Entfernung einer Warze behandeln. Das Kind als Krankheit, Abtreibung als Kurativ. Schon bei der Abschaffung des Werbeverbots für Abtreibungen (§219a Strafgesetzbuch) vor zwei Jahren wurde das deutlich. Am 13. Mai 2022 während der Zweiten Lesung des Gesetzesentwurfes erklärte Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Bündnis 90/Die Grünen) unumwunden: „Dieses Gesetz und die Debatte heute haben eine wichtige Signalwirkung: Diese Bundesregierung steht an der Seite der Frauen und zu ihrem Recht auf körperliche Selbstbestimmung. Deshalb wollen wir auch einen zweiten Schritt gehen und eine Regelung für den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des StGB treffen. Um diese hochkomplexen juristischen Fragen zu klären, setzen wir eine Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung ein. So wie sich Frauen auf medizinische Leistungen verlassen dürfen, wenn sie sich für ein Kind entscheiden, sollen sie künftig auf medizinische Leistungen vertrauen können, wenn sie sich gegen ein Kind entscheiden.“

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Im Grunde will die Ampelregierung die Agenda der international agierenden Abtreibungslobby exekutieren. Die Streichung des Werbeverbots für Abtreibungen aus dem Strafgesetzbuch war dazu nur ein erster Schritt. Gemäß dem Motto, was öffentlich beworben werden kann, kann nicht falsch sein. Die Errichtung von Bannmeilen um Abtreibungskliniken und Beratungsstellen ist ein zweiter. Als Nächstes steht der Wegfall der Beratungspflicht und die Streichung des §218 aus dem Strafgesetzbuch auf dem Programm.

Die Tötung eines Menschen ist nie ureigene Entscheidung

Niemand hat das vergangenen Freitag so deutlich gemacht, wie die nordfriesische Bundestagsabgeordnete Denise Loop (Bündnis 90/ Die Grünen). Die 30-Jährige staatlich anerkannte Sozialarbeiterin ließ sogar die Kampfparolen der Abtreibungsbefürworter im Plenarsaal des Bundestages erschallen. In der Debatte erklärte Loop: „Heute ist ein guter Tag; denn heute verabschieden wir das Gesetz gegen die sogenannte Gehsteigbelästigung. Ich freue mich, dass die unsäglichen Belästigungen von Schwangeren und von Mitarbeitenden vor Beratungsstellen und Arztpraxen bald ein Ende haben werden. Die Entscheidung für oder gegen eine Schwangerschaft ist die Entscheidung der Schwangeren. Mein Körper, meine Entscheidung! Wir stärken die reproduktiven Rechte von Frauen und die Rechte von Ärztinnen und Ärzten und medizinischem Personal. Das haben wir am Anfang der Legislaturperiode durch die Streichung von §219a StGB getan, und das machen wir heute mit den Verbesserungen im Schwangerschaftskonfliktgesetz. Uns Bündnisgrünen reicht das aber nicht. Wir wissen, dass wir mehr tun müssen, als den Zugang zu Beratungsstellen sicherzustellen. Dies zeigen auch die jüngst veröffentlichten Empfehlungen der Expertinnen- und Expertenkommission zu Schwangerschaftsabbrüchen. Deshalb ist der heutige Beschluss zwar ein guter Schritt, aber noch lange nicht das Ende unseres Einsatzes für reproduktive Rechte. Denn solange wir die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland haben und solange Frauen in ihrer ureigensten Entscheidung gegängelt werden, so lange ist es gut, dass wir mit der Verabschiedung dieses Gesetzes heute den Zugang zu Beratungsstellen und medizinischen Einrichtungen für Schwangere sicherer machen.“

Die Tötung eines Menschen, ob geboren oder ungeboren, ist, anders als dessen Zeugung, nie eine ureigene Entscheidung. Sie ist eine politische. Wer sie trifft, der verwirft, ob er sich dessen bewusst ist oder nicht, die Idee der gleichen Würde und gleichen Rechte aller Menschen. Anders ist die Auslöschung eines Menschenlebens, außer in Notwehr, nicht zu haben. Wer sie in Auftrag gibt, versagt daher nicht bloß moralisch, sondern als Mensch. Und wer ein solches Versagen ermöglicht, bewirbt oder gar zum Programm ergebt, versagt noch mehr. Denn er oder sie ist dem Konflikt, in dem sich die Kindseltern befinden mögen, von vorneherein enthoben. Er wählt nicht bloß falsch. Er ist die Falschheit selbst.

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