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Philosoph Schönecker: "Das Argument 'My body, my choice' ist hanebüchen"

Ein Gespräch mit dem Philosophieprofessor Dieter Schönecker über säkulare ethische Gründe gegen Abtreibung.
Mutter mit ungeborenem Kind
Foto: (215531920) | Wer konsistent sein will, muss auch den ungeborenen Menschen als Person achten.

Herr Schönecker, wir erleben derzeit in vielen Ländern eine neue gesellschaftliche Brisanz bei der Frage, ob Abtreibung zulässig ist. In Deutschland denkt die Regierung über eine Abschaffung von § 218 StGB nach. Viele, die sich moralisch gegen Abtreibung positionieren, berufen sich auf ein christliches Menschenbild und die Heiligkeit des Lebens. Ist das philosophisch überhaupt ein gangbarer Weg oder in einer säkularen Welt zum Scheitern verurteilt?

Es ist ein typisches Argument, dass religiöse oder theistische Argumente in der säkularen Debatte über Abtreibung keine Rolle spielen dürfen. In meinen Augen ist das falsch. Als Theist und Christ – ich bin selbst einer– hat man natürlich eine ganze Menge metaphysischer Voraussetzungen. Aber auch Atheisten haben eine Menge metaphysischer Voraussetzungen, nämlich in Form einer naturalistischen Metaphysik. Es gibt keine metaphysikfreie Theorie. Und deswegen ist die Idee grotesk, dass Christen, Muslime oder generell religiöse Menschen ihre Argumente in einem säkularen Staat nicht zur Geltung bringen könnten, weil sie metaphysische Voraussetzungen haben. Alle dürfen mitdiskutieren, egal was ihre jeweiligen metaphysischen Voraussetzungen sind.

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Lässt sich denn im Rahmen einer säkularen Ethik überhaupt gegen Abtreibung argumentieren?

Auf jeden Fall. Es gibt etwa die sogenannten vier "SKIP"-Argumente, wie wir sie mit Gregor Damschen in unserem Buch über den moralischen Status menschlicher Embryonen genannt haben: das Spezies-, das Kontinuitäts-, das Identitäts- und das Potenzialitätsargument. Das sind alles Argumente, die losgelöst von religiösen und theistischen Voraussetzungen vorgetragen werden können.

Welches ist in Ihren Augen davon das stärkste Argument?

Das stärkste Argument ist in meinen Augen das Potenzialitätsargument. Es besagt, dass Embryonen zumindest potenzielle Menschen sind und sich daraus ableiten lässt, dass sie als potenzielle Menschen bereits Rechte haben, die auch geborenen Menschen zukommen.

Könnten Sie diesen Gedanken noch ein wenig ausführen und dabei auch auf die Differenz zwischen dem Menschsein und dem Personsein eingehen?

Peter Singer, der bekanntermaßen ein Befürworter eines sogenannten Rechts auf Abtreibung ist, wendet sich interessanterweise gar nicht gegen die These, dass Embryonen Menschen sind. Es lässt sich einfach nicht bestreiten, dass Embryonen von der Spezieszugehörigkeit her betrachtet Menschen sind. Aber daraus folgt noch nicht zwingend, dass sie auch Personen sind. Von daher muss man unterscheiden zwischen Menschen und Personen. Es ist natürlich so, dass der Begriff "Menschsein" mehr umfasst als die bloße Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, nämlich bestimmte Eigenschaften wie Vernunft, Willen oder Zukunftsorientierung. Und es scheint klar, dass das auf Embryonen nicht zutrifft. Wenn wir annehmen, dass sie zwar aktuell keine Personen sind, aber die Anlage haben, Personen zu werden, dann wäre das Argument, dass diese Anlage selbst schon hinreichend dafür ist, dass sie Würde und eben auch entsprechende Rechte haben. Dieses Argument kann man etwa mit dem Identitätsargument verbinden: Der geborene Mensch ist numerisch identisch mit dem Menschen, der mit der Zeugung entsteht.

Dieter Schönecker
Foto: Privat | Prof. Dr. phil. Dieter Schönecker ist Professor für Praktische Philosophie an der Universität Siegen und Lyriker (zuletzt: "Dakota Suite", Königshausen & Neumann, 2022).

Der Personenstatus des Embryos ist demnach ein wichtiger Punkt in der Debatte. "Würde" und "Person" sind Begriffe, die in ihrer heutigen Bedeutung stark von Immanuel Kant mitgeprägt wurden. Wie positioniert sich Kant zur Abtreibung?

Nach Kant ist das neugeborene Baby eine Person, und Personen haben Rechte. Das überträgt sich bei ihm auch auf das ungeborene Wesen. Wir wissen aber nicht, wie das geht, dass Personen andere Personen in die Welt setzen. Kant bezieht sich an verschiedenen Stellen auf Menschen, deren personale Fähigkeiten aktuell eingeschränkt sind, die aber für ihn trotzdem Personen sind. Man muss es am Ende so verstehen: Kant ist der Auffassung, dass jemand zur Art "Person" gehört, nicht aufgrund aktueller konkreter Eigenschaften, sondern über die Klassifikation, das heißt: die Artzuschreibung.

Auch neugeborene Babys haben keine Zukunft bewusst vor sich, sie denken nicht und sind sehr beschränkt in ihrem Personsein. Und trotzdem haben sie die vollen Rechte wie alle geborenen, erwachsenen oder weiterentwickelten Personen. Wenn von Neugeborenen, die so gut wie nichts können, gilt, dass wir sie trotzdem als Personen akzeptieren, was ist dann der Unterschied zu den nicht geborenen Wesen, die ebenfalls so gut wie nichts können? Der Unterschied zwischen sechs Wochen und einem Tag nach der Geburt ist minimal.

Was halten Sie vom Slogan "My body, my choice", mit dem versucht wird, das Recht auf Abtreibung zu begründen?

Dieses Standardargument ist so hanebüchen, dass man kaum glauben kann, dass es immer wieder vorgetragen wird. Selbst wenn man den Punkt schenkt, dass der Embryo Teil des Körpers der Frau ist – was nicht klar ist –, dann folgt daraus nicht, dass die Frau mit diesem Teil machen darf, was sie will. Es ist generell nicht wahr, dass man mit seinem Körper machen darf, was man will, wenn man mit Kant so etwas wie Pflichten gegen sich selbst anerkennt. Dann könnte es sein, dass so etwas wie Selbstverstümmelung falsch ist. Schenken wir auch noch diesen Punkt, dann ist trotzdem eines klar: Wenn die Frau einen Tag vor der Geburt sagen würde: "Ich habe keine Lust mehr oder es ist mir zu schmerzhaft oder was auch immer: Ich lasse das Kind jetzt abtreiben", dann würden wir doch alle sagen: "Nein, das ist nicht okay." Aber der Punkt ist natürlich, dass es okay wäre, wenn das "My body, my choice"-Argument zutreffen würde. Es ist also nicht wahr, dass aus der Tatsache, dass der Embryo Teil des Körpers der Frau ist, folgt, dass sie das Kind abtreiben darf. Das folgt nur, wenn das ungeborene Wesen einen anderen Status hat als das geborene; aber wer das behauptet, argumentiert nicht mehr mit "My body, my choice".

Wie zugänglich sind Ihre Studenten für solche Argumente? In der öffentlichen Auseinandersetzung werden Abtreibungsgegner ja oft dämonisiert. Gibt es im Universitätskontext Ihrer Erfahrung nach noch die Bereitschaft, das Thema rational zu diskutieren?

Man muss differenzieren. Wenn ich mit meinen Studenten rede, kommt da schon Protest. Vor kurzem wurde ich in einem anderen Zusammenhang von einem Studenten dafür kritisiert, dass ich mich gegen die Abtreibung ausspreche. Also da gibt es schon Studenten, die es überhaupt nicht gut finden, dass ich es überhaupt wage, so ein Standardargument wie "My body, my choice" auseinanderzunehmen. Aber das ist nicht der Normalfall. Die meisten Studenten regen sich zwar auch auf, aber sie lassen sich dann schon darauf ein. Und einige lassen sich sogar überzeugen und sagen: "Gut, an diesem Argument ist irgendetwas nicht richtig."

Wir haben bisher über die moralische Beurteilung der Abtreibung gesprochen. Was folgt daraus für Sie rechtlich?

Ich unterscheide ziemlich scharf zwischen Ethik und Recht. Ethisch gesehen halte ich Abtreibung ganz eindeutig für falsch. Ich würde aber Staatlichkeit so verstehen, dass im Staat Menschen mit sehr verschiedenen Auffassungen zusammenleben müssen. Und diese Menschen müssen sich auf ein Minimum an Regeln einigen. Das ist schwer genug. Und wenn ich weiß, dass es vernünftige Menschen gibt, die ganz andere Auffassungen haben als ich, dann bin ich bereit, deren Auffassungen und auch deren Rechte auf bestimmte Handlungsweisen zu akzeptieren. Auch wenn ich das selbst für ethisch falsch halte. Jetzt ist die Abtreibung ein schwieriger Bereich, weil jeder Mensch gegenüber ungeborenen Menschen gewisse Schutzpflichten hat. Es ist für mich sehr schmerzhaft zuzugestehen, dass man die Möglichkeit hat, einen vier Wochen alten Embryo abzutreiben, ohne bestraft zu werden. Aber das akzeptiere ich. Ich würde jedoch auf jeden Fall sagen, dass der Staat Grenzen setzen muss, etwa wenn es um Spätabtreibungen geht. Also spätestens nach dem dritten Monat muss der Staat das ungeborene Kind schützen. Von daher bin ich auch gegen eine Abschaffung des Paragraphen 218.

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