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Zurück an den Absender

Warum der Brief der deutschen Intellektuellen an den Bundeskanzler „aus der Zeit gefallen“ ist.
Ukraine-Krieg - Proteste in Finnland
Foto: Vesa Moilanen (Lehtikuva) | Die vielleicht deutlichste Ablehnung des Schreibens der Intellektuellen kam aus dem Raum der Grünen. Im Bild: Eine Demonstrantin der ukrainische Vereinigung in Finnland protestiert vor der deutschen Botschaft in ...

Viele, viele Deutsche engagieren sich für ukrainische Kriegsflüchtlinge, doch das internationale Image des Landes ist auf dem Nullpunkt angekommen: Kreml-Verstrickungen der politischen Elite, ein als zaudernd wahrgenommener Regierungschef, Konflikte mit der ukrainischen Regierung. In dieser angespannten Situation haben sich 30 deutsche Intellektuelle, unter anderem die Publizistin Alice Schwarzer sowie die Schriftsteller Martin Walser und Juli Zeh, in einem Brief zu Wort gemeldet, in dem sie Bundeskanzler Olaf Scholz um Besonnenheit beim Thema Waffenlieferungen bitten, um nicht zum Ausbruch eines Dritten Weltkriegs beizutragen.

„Wir hoffen darum, dass Sie sich auf Ihre ursprüngliche Position besinnen und nicht, weder direkt noch indirekt, weitere schwere Waffen an die Ukraine liefern. Wir bitten Sie im Gegenteil dringlich, alles dazu beizutragen, dass es so schnell wie möglich zu einem Waffenstillstand kommen kann; zu einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können.“ 

Der Haupt- und Erstaggressor ist Russland

Zwar ist es den Briefunterzeichnern, denen sich online inzwischen 140.000 Personen angeschlossen haben, bekannt, dass Putin mit dem Überfall auf das Nachbarland das Völkerrecht gebrochen hat, doch sie fürchten bei einem stärkeren deutschen Engagement militärischer Natur das „Risiko der Eskalation dieses Krieges zu einem atomaren Konflikt“. Denn: „Ein russischer Gegenschlag könnte sodann den Beistandsfall nach dem Nato-Vertrag und damit die unmittelbare Gefahr eines Weltkriegs auslösen.“

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Ein „russischer Gegenschlag“? Hier ist sprachlich und gedanklich bei den Unterzeichnern offenbar etwas aus dem Ruder gelaufen, denn der Haupt- und Erstaggressor ist Russland. Zudem wird die Bedeutung deutscher Waffen überbetont. Oder hat der Einsatz US-amerikanischer und britischer Waffen auf Seiten der Ukraine aus Sicht deutscher Intellektueller auch einen „russischen Gegenschlag“ provoziert?

Gedanklich noch schräger wird der Brief, wenn es um die Rolle der Ukraine und das Leid der ukrainischen Bevölkerung geht. Heißt es doch weiter in dem Schreiben: „Dazu steht selbst der berechtigte Widerstand gegen einen Aggressor in einem unerträglichen Missverhältnis. Wir warnen vor einem zweifachen Irrtum: Zum einen, dass die Verantwortung für die Gefahr einer Eskalation zum atomaren Konflikt allein den ursprünglichen Aggressor angehe und nicht auch diejenigen, die ihm sehenden Auges ein Motiv zu einem gegebenenfalls verbrecherischen Handeln liefern. Und zum andern, dass die Entscheidung über die moralische Verantwortbarkeit der weiteren „Kosten“ an Menschenleben unter der ukrainischen Zivilbevölkerung ausschließlich in die Zuständigkeit ihrer Regierung falle. Moralisch verbindliche Normen sind universaler Natur.“

Anmaßend, undemokratisch und übergriffig

Was die deutschen Intellektuellen damit sagen, ist einigermaßen erschütternd. Nämlich erstens: Mag sein, dass Putin den Krieg angefangen hat, aber wer sich zu entschieden gegen ihn wehrt, trägt eine Mitverantwortung für eine weitere Eskalation. Und zweitens: Die ukrainische Regierung ergo ihr gewählter Präsident hat nicht allein zu entscheiden, ob und wie sich das Land gegen die russische Aggression zu wehren hat. Das ist ungeheuer anmaßend, undemokratisch und übergriffig, wenn es auf die Souveränität eines freien europäischen Landes geht. Im Prinzip greifen die deutschen Intellektuellen verbal die Ukraine nun von Westen an und stellen sich moralisch auf die Seite Putins. 

Dass es darauf kritische Reaktionen vonseiten der deutschen Politik gab, ist ein positives Zeichen. Umso mehr, als die vielleicht deutlichste Ablehnung des Schreibens aus dem Raum der Grünen kam. Der Partei also, der man mit Sicherheit keine mangelnde Pazifismus-Mentalität vorwerfen kann. So fragte die Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann an die Adresse der Briefunterzeichner gerichtet: „Wo sollen ,Kompromisse‘ sein, wenn Putin völkerrechtswidrig ein freies europäisches Land überfällt, Städte dem Erdboden gleichgemacht, Zivilisten ermordet werden und Vergewaltigung systematisch als Waffe gegen Frauen eingesetzt wird.“ Auch die national-moralische Hybris der Unterzeichner kritisierte Haßelmann: „Dabei sollte sich niemand anmaßen, über die Köpfe der Ukrainerinnen und Ukrainer hinweg entscheiden zu können.“

Scholz reagiert indirekt auf das Schreiben

Ähnlich scheint es auch Kanzler Scholz zu sehen. Bei einer Rede zum 1. Mai in Düsseldorf sagte Scholz mit leidenschaftlicher Rhetorik zum Ukraine-Konflikt: „Aber es muss einem Bürger der Ukraine zynisch vorkommen, wenn ihm gesagt wird, er solle sich gegen die Putinsche Aggression ohne Waffen verteidigen. Das ist aus der Zeit gefallen!“ Es klang aus Sicht mancher Journalisten wie eine zumindest indirekte Reaktion auf das Schreiben der Intellektuellen. Keine Empfangsbestätigung allerdings, sondern ein deutliches und realpolitisch inspiriertes „Zurück an den Absender“. Die Angst vor einem Weltkrieg, ausgelöst durch einen unberechenbaren Diktator, der auch vor Attacken auf Kiew nicht zurückscheut, während sich dort der UN-Generalsekretär aufhält, schließt das nicht aus.

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