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„Hinterher“ von Finn Job: Abgesang auf eine Welt ohne Transzendenz

Der Schriftsteller Finn Job erzählt in „Hinterher“ trunken vom Verfall einer Gesellschaft, findet aber auch persönliche Momente von hoher Bindungskraft
Teegedeck; Marcel Proust Museum
Foto: Lamberto Scipioni (imago stock&people) | In Marcel Proust Museum in Saint-Hilaire kann man ein Teegedeck bewundern und sich der Illusion des Genusses hingeben, bei der Vorstellung eines herzhaften Bisses in Madeleines.

Ein junger schwuler Kokser mit einem Faible für Kathedralen und Kirchen auf der Flucht vor der verrotteten Stadt Berlin, angeödet vom Palaver seiner Generation, überdrüssig der Hauptstadterotik, sehnsüchtig einer vergangenen Zeit hinterhertrauernd: Wer einen Roman mit dieser Hauptfigur schreibt, läuft in erweckten Zeiten Gefahr, als konservativ abgestempelt zu werden. Finn Job ist dieses Risiko eingegangen mit seinem Debütroman „Hinterher“ (Wagenbach Verlag).

Während viele Autoren trunken sind vom Gedanken der Tabula rasa oder besessen sind von Herkunft und Identität, stiftet Job mit seinem Debütroman „Hinterher“ eine wohltuende Unruhe. Der Eintönigkeit im Denken und Fühlen setzt der 27-jährige Autor, der sich in Berlin seinen Lebensunterhalt als Kellner und Lektor verdingt, eine anregende Wahrnehmungsverwirrung entgegen. Statt dem Ruf nach Politisierung der Literatur zu gehorchen, besinnt er sich auf die Verführungskraft von Sprache und Literatur. Finn Job löckt wider den Stachel – in aller Unschuld, möchte man sagen, und das macht den Reiz aus – indem er sich mit Lust, diszipliniert noch dazu, in ein ästhetisches Abenteuer stürzt.

Berlin gleicht hier dem Paris Guy de Maupassants

Er scheut dabei nicht davor zurück, den Ich-Erzähler in eine aus den Fugen geratene Welt zu stürzen. Symbolisch für diese im Verfall begriffene Welt ist Berlin. Job zeichnet eine Hauptstadt, in der jugendliche Migranten in Neukölln Jagd auf Schwule und Juden machen, in der Bildung als Privileg geschmäht wird und durch postmoderne und postkoloniale Versatzstücke substituiert wird. Alles an dieser Stadt ist ein Danach, ein Vergangenes, das Gebaute und Erschaffene verschütt gegangen in einem Moloch, der Guy de Maupassants Paris gleicht. Auch mit den Universitätsdozenten geht er hart ins Gericht: Lieber redeten sie über ihre Gefühle mit Studenten als ihr Fachwissen unter Beweis zu stellen aus Angst davor, „als Konservative, also als Nazis, gebrandmarkt zu werden“.

Ein leidenschaftlicher, furchtloser Redeschwall ergießt sich über Kulturrelativisten und Linguisticturnbesessene, die „dich steinigen, wenn du falsch genderst, die aber real existierende Gewalt nicht einmal erkennen, wenn sie vor ihnen steht“. Eine Beobachtung, die sich auch in der #metoo-Debatte machen ließ, als der Fokus immer mehr von physischer auf psychische Gewalt verschoben wurde. In den Hintergrund traten die wahrhaft Wehrlosen, auf den Plan die Bekämpferinnen des Patriarchats und der sogenannten strukturellen Gewalt, verübt meist vom alten, weißen Mann.

„Zu vielen Versuchungen ist der heutige Mensch ausgesetzt:
dem Verlust des Ichs in den Verlockungen des Vergangenen,
der eitlen Selbstbespiegelung, der Hingabe an eine rein technische Ratio,
dem Pathos des Schweigens und dem Lockruf des Todes“

Bei derbem Jargon und direkten Angriffen lässt es der Autor aber nicht bewenden. Der Versuchung des politischen Schreibens mit seinen Hasstiraden und Philippiken erliegt der Schriftsteller nicht, vielmehr begibt er sich unter die sanfte Schirmherrschaft der römischen Göttin Suada, indem er alle Register der sprachlichen Verführung zieht. Der Roman ist von einer dampfenden, perlenden, fließenden Sinnlichkeit erfüllt, die weit über Körperlichkeit hinausweist. Die individuellen Wahrnehmungen reflektieren sich immer auch auf einer übergeordneten Ebene.

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Einem unklaren Ruf der Sirenen folgend, begeben sich der Erzähler, Boy genannt und sein Kumpan Francesco, nach Frankreich, in das Land der Aufklärung und des Katholizismus. Auf dieser Odyssee erlebt der Erzähler nicht nur seine eigene Wandlung, die Abkühlung des erhitzten Gemütes und das Versiegen der Lebenslust, sondern auch den Niedergang der abendländischen Kunst- und Kulturgeschichte. Mit einer Verfallserzählung und Gesellschaftskritik bescheidet sich der Autor jedoch nicht. Es ist das sinnliche Erleben in dieser Suche nach der verlorenen Zeit, die dieses Buch so bemerkenswert macht. So ist es ein Glücksfall, dass „Hinterher“ im Jahr des 100. Todestages des französischen Schriftstellers Marcel Proust erscheint.

Der künstlerische Blick widersteht der Zivilisation

Bei Proust ist es die in Tee getunkte Madeleine, die den Schriftsteller von einem intensiven Glücksgefühl beim Gedanken an die Kindheit erfasst. Finn Jobs Madeleine ist der Duft der Clementinen auf der Haut der Mutter. Im Gegensatz zu Proust aber hat der Duft der Erinnerung bei Job etwas Zwiespältiges: Wenn die Finger der Mutter über das „vom Weinen schmerzenden Gesicht glitten“, dann bedeutete die Geste nicht nur Zärtlichkeit: „in der zweckhaften Zärtlichkeit lag die ganze Gewalt“.

In diesem melancholisch gebrochenen Erleben lässt der Roman die Nachtseiten der Seele aufscheinen, wenn der jugendliche Ich-Erzähler sich selbst abhanden zu kommen droht, ja schlimmer noch buchstäblich sein Selbst mordet im Exzess. Rausch, Ausschweifung, Betäubung verlieren jedoch ihre Wirkung, sodass der Erzähler in einer bedauernswerten Passivität versinkt und sich ins innere Exil zurückzieht. Dem Niedergang der Welt wohnt er regungslos bei, indem er aufkeimendes Verlangen und den eigenen rebellischen Esprit erstickt.

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Zwischen irdischem Tollhaus und klarsichtigem Wahn

Die Rolle des Beobachters, hin- und her wankend zwischen dem irdischen Tollhaus und klarsichtigem Wahn, verengt sich auf totale Tatenlosigkeit. Lähmung angesichts des Weltenhorrors droht nicht nur dem Ich-Erzähler. Auch den Lauf der Welt kennzeichnet der Weg von der Parrhesie zur Paralysis. Die Errungenschaft der Redefreiheit erschlafft im trägen Wort, in der blutleeren Sprache, im gezähmten Menschen und seinem folgsamen Duktus, in einem Ausdruck, der bar jeden Rhythmus', jeder Melodie an Individualität einbüßt.

„Ja, ich hasste die Kunst, hasste die Künstler“, klagt der Ich-Erzähler, während der Romanautor mit jeder Hypotaxe, jedem Oxymoron das Gegenteil beschreibt. Vom „hohen Ton bis zum delirierenden Trash“, treffend Finn Jobs Lektorin Annette Wassermann, spannt er den Bogen. Dieser sprachliche Facettenreichtum ermöglicht es, in Gefilde vorzustoßen, die jenseits von Ödnis und Opulenz liegen, dahin, wo die Illusion beginnt. Einzig die künstlerische Wahrnehmung ist ein möglicher Gegenpart zur geistigen Schläfrigkeit und dem Siechtum der Zivilisation. Technisch erzeugt der Autor seine Trugbilder nicht nur mit dem Verweis auf Rauschgifte, sondern mittels Spiegel-Motiven und der „Mise en abyme“. In der Heraldik bezeichnet man damit ein Bild im Bild, ein Wappen im Wappen.

Verfall und Verschwinden

In „Hinterher“ ist es beispielsweise eine Proust-Ausgabe, die der Erzähler in einer verfallenen Villa entdeckt oder ein Plüsch-Proust im Seebad Cabourg. In den Abgrund (abyme) stellt der Autor auch den Leser, denn Verfall und Verschwinden entfalten einen verführerischen Gesang. Ihm zu widerstehen, erfordert mehr als Wachs in den Ohren. Zu vielen Versuchungen ist der heutige Mensch ausgesetzt: dem Verlust des Ichs in den Verlockungen des Vergangenen, der eitlen Selbstbespiegelung, der Hingabe an eine rein technische Ratio, dem Pathos des Schweigens und dem Lockruf des Todes.

Der Abgesang auf eine Welt ohne Transzendenz und Himmlisches – ist es ein konservatives Lied, das Finn Job mit „Hinterher“ anstimmt? „Conservative Boy“ mit einem dicken Fragezeichen, so wird der Erzähler im Roman genannt. Das Wahrende, Bewahrende zieht bisweilen „bunte Schlieren“ über „Kanzel und Kreuz, über Beichtstuhl und Orgel“. Das Fragezeichen bleibt, die Illusion verweilt.


Finn Job: Hinterher. Roman. Verlag Klaus Wagenbach 2022,
192 Seiten, ISBN-13: 978-380313-348-9, EUR 22,–

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