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Lorenz Jäger: Wir sind nicht Eigentümer unserer selbst

Wer einem vermeintlichen Recht auf „Selbsteigentum“ das Wort redet, öffnet Organhandel, Leihmutterschaft, Geschlechtsumwandlungen und Abtreibungen Tür und Tor.
Eine schwagere Frau bietet ihr Kind an
Foto: AndreyPopov via www.imago-images.de (www.imago-images.de) | Eine schwangere Frau bietet ihr Kind zum Verkauf an. Symbolbild für Leihmutterschaft.

Die Freiheit der Wirtschaft vor übermäßigen Staatseingriffen, der Schutz und die Würdigung des Privateigentums vor kollektivistischen Experimenten: das sind Anliegen, in denen liberale und christliche Denkungsart sich treffen können – mit Maßen. Man muss wissen, an welchen Stellen der Begriff des privaten Eigentums greift und wo nicht, wann genau er unangemessen wird.

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Seit einigen Jahrzehnten gibt es eine zugespitzte Version des liberalen Denkens, den „Libertarismus“. Hier trifft sich ein klassischer Eigentümer-Liberalismus mit anarchistischen Motiven. Den Denkern dieser Richtung verdankt man eine oft scharfsinnige Polemik gegen sozialistische Versuchungen, die dem demokratischen Staat strukturell nahezuliegen scheinen: Gewählt wird, wer seine Klientel durch Umverteilung versorgen kann. In dieser ultraliberalen Lehre spielt der Begriff des „Selbsteigentums“ eine große Rolle.

Wem gehört der Mensch? 

Das Eigentum des Menschen an seiner Person wird zum Fundament, zum Axiom der ganzen Argumentationskette erklärt. Der Gedanke geht auf den englischen Philosophen John Locke (1632 bis 1704) zurück. In seinen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“ formulierte er als Grundprinzip des modernen liberalen Denkens: „Every Man has a Property in his own Person“ – jeder Mensch hat das Eigentumsrecht an seiner eigenen Person. Man könnte sagen: Hier, im englischen Liberalismus, werden eine Soziallehre und eine politische Theorie auf der relativ schmalen Basis eines ökonomischen Begriffs errichtet. Man kann vermuten, dass Begründung und Begründetes einander nicht entsprechen können.

Zweifel kommen schon, wenn man das Bürgerliche Gesetzbuch heranzieht. Es nennt in § 903 Abs. 1 als die grundlegenden Befugnisse des Eigentümers: „Der Eigentümer einer Sache kann, soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen.“ Eigentum gibt es demnach nur an einer Sache, vom „Selbsteigentum“ weiß das Gesetz nichts. Mein Leben ist auch keine Sache, die ich veräußern könnte, so wenig wie ich es durch eine ökonomische Transaktion erworben habe.

Die große Fehldeutung

Die Formulierung „Selbsteigentum“ bedeutetet eine fundamentale Fehldeutung des Lebens. Allerdings ist gerade sie an den Randstellen, wo sie zweideutig wird und ausfranst, enorm bezeichnend für die Gegenwart. Angenommen, „Selbsteigentum“ wäre der erste, unhintergehbare Freiheitsgrundsatz – müsste dann nicht der Organhandel schnellstens legalisiert werden? Und ebenso die Leihmutterschaft? Wenn, dann hätte die kapitalistische Idee das letzte Wort, sie würde auf einen von ihr gar nicht gedeckten Bereich - den des Lebens - ausgedehnt. Beim assistierten Suizid ist man in manchen Ländern wie Belgien und Kanada schon so weit.

Der Publizist Jean Améry, der sich tatsächlich das Leben nahm, hatte zuvor in einem Traktat das Recht betont, „sich selbst zu gehören“. Auch Abtreibungen und operative Geschlechtsumwandlungen finden in der Lehre vom „Selbsteigentum“ eine Rechtfertigung. Die Kirche hat soeben in der Erklärung „Dignitas infinita“ eine klare Gegenposition bezogen.

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