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Ein großes „Ja“ anstatt der vielen „Neins“

Joseph Ratzinger und die moralischen Prinzipien des Christentums.
Papst Benedikt XVI. im Bundestag
Foto: Herbert Knosowski (dpa) | „Die Kirche muss von ihrem Wesen her immer wieder ,den Weg zeigen‘. Sie muss den moralischen Inhalt des Glaubens immer neu sichtbar machen.“ Dies nicht zu tun, würde ihren Auftrag verraten.

Joseph Ratzinger war sich überaus bewusst, dass an der Moraltheologie vor dem Zweiten Vatikanum irgendetwas völlig falsch war. Legalistisch und auf Pflichten und Obliegenheiten fokussiert, hatte sie das christliche Verhalten auf eine Art christliches Pharisäertum verkürzt. Die Hauptverantwortung dafür ist, nach Auffassung Ratzingers, der Moraltheologie anzulasten, die in den vorkonziliaren Handbüchern zu finden war. Dort wurde beispielsweise der gesamte Themenkomplex der Sexualität auf ein Kalkül ehelicher Anrechte und Vertragspflichten reduziert. Es war eine Moraltheologie, die von so vielen „Neins“ gekennzeichnet war, argumentierte er, anstatt die katholische Ethik als die Verwirklichung eines großen „Ja“ darzustellen.

Die Natur der christlichen Moral

Doch Ratzinger war sich sogar noch weitaus mehr darüber bewusst, dass in den Sitten der heutigen westlichen Gesellschaft nicht alles zum Besten bestellt ist. Bekanntlich beschrieb er am Vorabend des Konsistoriums, das ihn zum Papst wählen sollte, das kulturelle Krebsgeschwür, das am Herzstück des gesellschaftlichen Lebens unserer Zeit nagte, als „eine Diktatur des Relativismus“. Doch vor seiner Wahl reflektierte Ratzinger (in seinen theologischen Publikationen) und nach seiner Wahl (in seinen päpstlichen Ansprachen, insbesondere in Regensburg, Westminster und Berlin) umfassend über die politischen Folgen der gängigen Leugnung der objektiven Wahrheit in Bezug auf die in unser ganzes Sein als Menschen eingeschriebene moralische Ordnung. Der moralische Relativismus, so machte er geltend, ist darüber hinaus auf die heutige weit verbreitete Glaubenskrise zurückzuführen. „Die Krise des Glaubens, die in zunehmendem Maße die Christenheit bedrängt, zeigt sich immer deutlicher auch als eine Krise im Bewusstsein der Grundwerte menschlichen Lebens. Sie wird so einerseits durch die moralische Krise der Menschheit genährt und wirkt andererseits auch wieder verschärfend auf diese zurück.“ Damit beginnt er eine seiner wenigen expliziten Abstecher in die lebhafte Debatte unter Moraltheologen nach dem Zweiten Vatikanum. Darin spricht er eine der zentralen Fragen der katholischen Moraltheologie an, nämlich: Gibt es so etwas wie eine spezifisch christliche Moral, da ja viele ihrer Werte auch in nichtchristlichen Traditionen festgestellt werden können?

Ratzinger skizziert mit einigen wenigen und geschickten Strichen die grundlegenden moralischen Fragen, die sich aus der intrinsischen Einheit von Glauben und Leben ergeben: Der Glaube ist ein Ruf zu einem besonderen Lebenswandel. Die Einheit von Glauben und Leben könnte als Zusammenspiel zwischen Orthodoxie und Orthopraxie ausgedrückt werden, bei der die Orthodoxie einen tatsächlichen Vorrang hat, da sie sich an die Offenbarung anlehnt. Die spezifische Natur der christlichen Moral (mit ihrem im wesentlichen unveränderlichen Inhalt) leitet sich aus der Interaktion zwischen den moralischen Anforderungen der geschaffenen sittlichen Ordnung und jener existenziellen Begegnung mit dem lebendigen Gott ab, was wir als Glauben bezeichnen. Diese Interaktion hat im Laufe der Zeit die Forderungen der geschaffenen sittlichen Ordnung verdeutlicht und radikalisiert, deren moralische Forderungen im Übrigen in unterschiedlichem Maße auch in den Weisheitstraditionen der Menschheit zu finden sind, was von C.S. Lewis in seinem Essay „Die Abschaffung des Menschen“ – aus dem Ratzinger zitierte – gut veranschaulicht wird.

Der Weg des Glaubens

Aus der Sicht der Heiligen Schrift zeigt Ratzinger auf, wie die – bisweilen radikalen – moralischen Konsequenzen des eschatologischen Glaubens, wie die Jungfräulichkeit oder die Unauflöslichkeit der Ehe, von Anbeginn für die apostolische Verkündigung entscheidend und somit durch die apostolische Autorität schlechthin sichergestellt waren. Der Glaube ist der Weg, der wahre Weg, der zur vollständigen menschlichen Erfüllung, zur Einheit mit Gott, führt. Infolgedessen muss der Glaube einen konkreten moralischen Inhalt haben, um uns auf diesem Weg zu führen. „Die Kirche muss von ihrem Wesen her immer wieder ,den Weg zeigen‘. Sie muss den moralischen Inhalt des Glaubens immer neu sichtbar machen.“ Dies nicht zu tun, würde ihren Auftrag verraten. „Ein Christentum, das über das allgemeine Liebesgebot hinaus nicht mehr und Konkretes sagen könnte, wäre nicht mehr als Weg zu bezeichnen.“ Was aber ist dann der konkrete Inhalt der christlichen Ethik?

Der heilige Paulus Joseph Ratzinger erkannte, dass das, was die Heiden durch ihr Gewissen erkannten (vgl. Röm 2,14–15), durch den Glauben verdeutlicht und zu den wesentlichen Grundzügen des normativen christlichen Verhaltens umgesetzt wurde. Die unveränderlichen moralischen Prinzipien, die analog dazu durch die Weisheit der Nationen (das heißt die menschliche Vernunft) bekannt waren, sind durch den Glauben vervollkommnet worden. Sie müssen immer wieder von der einen Generation zur nächsten klargestellt und verbindlich ausgelegt werden, damit die Christen auf die moralischen Forderungen reagieren können, die nachfolgenden historischen kulturellen Entwicklungen innewohnen. Dies ist ein Prozess der Anpassung, der Klärung und Klarstellung, der auf eine Umgestaltung der Erkenntnisse der Vernunft hinausläuft, was diese spezifisch christlich macht. „In den Prozess der Assimilation des wahrhaft Vernünftigen und der Abstoßung des Scheinvernünftigen gehört die ganze Kirche hinein; er kann nicht von einem isolierten Lehramt und mit einer orakelhaften Unfehlbarkeit in jedem Detail vollzogen werden. Das Leben und Leiden der Christen, die ihren Glauben inmitten ihrer Zeit bestehen, gehört ebenso dazu wie das Denken und Fragen der Gelehrten, das freilich zum Leerlauf wird, wenn ihm die Deckung in der christlichen Existenz fehlt, die in der Passion des Alltags die Geister zu unterscheiden lernt.“

Dies war offenbar auch der Prozess, der zu der „Instruktion der Kongregation für die Glaubenslehre über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung“ (1987) führte, die Ratzingers Handschrift als Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre trug. „Donum vitae“ ist bekanntermaßen ein Schlüsseldokument in der Entwicklung der kirchlichen Lehre über die Bioethik, in dem die Prinzipien der kirchlichen Moraltradition über die Weitergabe des menschlichen Lebens, die von Paul VI. in „Humane vitae“ (1968) nach eingehenden Beratungen neu formuliert worden waren, auf eine dramatisch neue Reihe moralischer Dilemmata angewandt wurden, die sich aus Entwicklungen bei der künstlichen menschlichen Fortpflanzung (IVF, Leihmutterschaft et cetera) ergaben.
Sein persönlicher Beitrag zu dieser intensiven Debatte innerhalb der Kongregation für die Glaubenslehre (die die öffentliche Diskussion in der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit widerspiegelte) war eine Analyse der grundlegenden philosophischen und theologischen Annahmen hinter der künstlichen Befruchtung, die er später als Artikel in „Der Mensch zwischen Reproduktion und Schöpfung“ in der Zeitschrift „Communio“ 18 (1989), Seite 61–71, veröffentlichte.

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Und gerade seine Fähigkeit, die philosophischen und theologischen Annahmen – die die aktuellen moralischen Dilemmata auf der persönlichen und der gesellschaftlichen Ebene bestimmen –, sichtbar zu machen, ist das Hauptkennzeichen sämtlicher moraltheologischer Reflexionen Ratzingers. So wies er beispielsweise bereits 1968 in seiner Ehetheologie den lange Zeit allgemein anerkannten Gegensatz zwischen eros (menschliche Liebe) und agapé (göttliche Liebe) als falsch zurück. Agape als reine Selbstlosigkeit zu verstehen (wie ursprünglich von lutheranischen Theologen wie Anders Nygren vorgeschlagen) ist schlicht inhuman. Das intrinsische Verhältnis zwischen menschlicher und göttlicher Liebe war das Hauptthema seiner Enzyklika „Deus caritas est“.

Nachdem Benedikt XVI. die in der Offenbarung fundierte Sicht der Liebe erläutert hatte, geht er anschließend zum zweiten Teil der Enzyklika über, um die Kirchenlehre über soziale Gerechtigkeit innerhalb der in der göttlichen und menschlichen Liebe verankerten allumfassenden dogmatischen Sicht des christlichen Lebens zu verorten. Das Fehlen einer derartigen Sicht, so meint er, habe zur katholischen Soziallehre geführt, die im Endeffekt, selbst von Katholiken, nicht beachtet wurde. „Spe salvi“, seine Enzyklika über die Hoffnung, und seine Enzyklika „Caritas in veritate“, mit der die katholische Soziallehre auf den neuesten Stand gebracht wurde, vervollständigen diese Sicht.

Gemeinsam mit zeitgenössischen Theologen wies Ratzinger in seiner Ehetheologie von 1968 Ulpians physikalistisches Verständnis des Naturrechts zurück und versuchte ein eher personalistisches Verständnis der ehelichen Beziehungen zu entwickeln. Dennoch stellte er das Naturrecht an sich niemals in Abrede. Genau genommen ist dieses das Bollwerk seiner moralischen Reflexionen und seiner Intervention in die politische Debatte, wie sie beispielhaft durch seine Bundestagsrede verdeutlicht wurden. Das Naturrecht ist die sittliche Ordnung, wie sie uns in die Tiefenstruktur unseres Seins als Gottes Geschöpfe eingeschrieben wurde.

Ratzingers Verständnis vom Gewissen als das Urgewissen (vgl. Röm 2,14–15) scheint mir der Schlüssel für seine eigene Herangehensweise an das Naturrecht zu sein. Er kritisiert das falsche Verständnis vom Gewissen (als subjektive Überzeugung), die die gegenwärtige katholische Moraltheologie beherrschte – und auch weiterhin beherrscht – und unterbreitet eine radikale Alternative. John Henry Newman war die Hauptinspiration hinter seiner Wiederherstellung des ursprünglichen Verständnisses der synderesis, nämlich unseres primordialen (ursprünglichen) Gewissens. Es ist dies unsere Antenne für die Transzendenz, unsere angeborene Fähigkeit zur Erkennung des Wahren, Guten und Schönen. Dies unterscheidet sich vom Gewissen als Urteilsvermögen, wobei das Erstere die Voraussetzung für das Letztere ist. Das primordiale Gewissen ist kein Orakel, das die moralischen Wahrheiten beinhaltet, sondern es ist (in Anlehnung an Robert Spaemann) eher wie ein Organ, unserem Sprachvermögen ähnlich, das durch Übung entwickelt werden muss. Es wird hauptsächlich durch die Werte (oder durch die moralische Ausdrucksweise) der Gemeinschaft geformt (oder deformiert), in der wir aufwachsen. Der gottgegebene Auftrag der Autorität der kirchlichen Lehre ist es, dieses primordiale Gewissen anzusprechen – diese „Erkenntnis Gottes“, die sich aus unserem geschaffenen Sein nach dem Bildnis und Gleichnis Gottes (Gen 1,27) ergibt. Dieses Bildnis Gottes in uns kann entweder durch kulturelle Ambiguität oder persönliche Sündhaftigkeit getrübt sein, die beide zu Vermessenheit führen können – zu diesem falschen subjektiven Gewissen, um dessen Befreiung der Psalmist betet (vgl. Ps 18 (19),12-13). Doch das primordiale Gewissen kann nicht ausgelöscht werden; es bleibt als Quelle der Buße/ der Bekehrung bestehen. Seine nicht zu beseitigende Existenz im Herzen jedes Menschen ist darüber hinaus das anthropologische Fundament des göttlichen Auftrags der Kirche, alle Völker zu lehren.

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Diese tiefgründige Vorstellung vom Gewissen (als gelebte persönliche Verantwortung vor Gott und dem Menschen) ist letztlich ein Hauptthema in Ratzingers Theologie des politischen Lebens wie auch in seiner Ekklesiologie (vgl. Apg 5,29). „Glaube als Weg“ ist der Titel des Vortrags, den Kardinal Ratzinger bei der Pressekonferenz zur Präsentation der Enzyklika von Papst Johannes Paul II. über grundlegende Fragen der Moraltheologie, „Veritatis splendor“ (1993), hielt. Darin behandelte er den Anlass zur Verwirrung innerhalb der Kirche und in einer Welt, deren Geisteshaltung zunehmend von der Technik bestimmt wird, die nicht mehr auf objektiven Moralprinzipien basiert oder von ihnen beschränkt wird. Was der Mensch machen kann, wird nicht mehr davon bestimmt, was er tun sollte, was potenziell entsetzliche Folgen für die Zukunft der Menschheit hat, da der technische Fortschritt dem Menschen – im Guten wie im Bösen – unsägliche Möglichkeiten bietet. Ratzinger hob das hervor, was Johannes Paul II. als die erheblichste Ursache der heutigen Bedrohung der Menschheit bezeichnet: die Leugnung der objektiven Wahrheit (wie sie in den Vorstellungen intrinsisch unmoralischer Handlungen oder absoluter oder transzendenter Normen zum Ausdruck gebracht wird) und deren Ersetzung durch den moralischen Relativismus (mit der dazugehörigen Gefahr des Totalitarismus, der Herrschaft nackter politischer Gewalt über das Menschenrecht). Die Freiheit ist von der Wahrheit abgekoppelt worden. Auch hier greift er seine lebenslange Kritik eines abstrakten Verständnisses der Vernunft auf, unserer Fähigkeit zur Wahrheit, die in einem ausschließlich rationalistischen Sinne missverstanden wird.

Dieses mangelhafte Verständnis der Vernunft hält er für die Ursache des Utilitarismus, der heute in der Gesellschaft als moralische Argumentation gilt. Doch er betrachtet dieses Verständnis darüber hinaus als üblich –  sowohl in der neoscholastischen als auch der nachkonziliaren Hauptströmung der Moraltheologie (unter unterschiedlichen Bezeichnungen bekannt als teleologisch, konsequenzialistisch und proportionalistisch). Die Vernunft, so insistiert er, ist keine Abstraktion; sie ist stets leibhaftig, das heißt in leibhaftigen Männern und Frauen verkörpert – und somit durch bestimmte kulturelle Traditionen geformt, die von Natur aus zweideutig und verdorben sind, was unsere gefallene conditio humana bewirkt. Die menschliche Vernunft muss daher durch die persönliche Begegnung mit der göttlichen Offenbarung geläutert und vertieft werden. Vielleicht ist dieses realistische Verständnis der menschlichen Vernunft als leibhaftig in der (sowohl persönlich als auch gesellschaftlich) gefallenen menschlichen Natur Ratzingers wichtigster Beitrag zur zeitgenössischen Moraltheologie. Es bestimmt zudem die Rolle der Moraltheologie innerhalb des göttlichen Auftrags der Kirche, alle Völker den Weg zu Gott zu lehren. Joseph Ratzingers wichtigste Interventionen in die Moraltheologie sind zu finden in seinen Gesammelten Schriften, Band 4 [JRGS, 4], mit dem Titel Einführung in das Christentum, nach seiner grundlegenden Arbeit dieses Titels. Sein Kommentar zu diesem Band macht darauf aufmerksam, wie er die Moraltheologie innerhalb einer umfassenden Theologie des christlichen Lebens „positioniert“.

Dieser Kommentar offenbart, dass die katholische Moraltheologie nach Ratzingers Auffassung nur dann verstanden werden kann, wenn sie innerhalb dieser erweiterten Sicht eingebettet wird. Genauer gesagt ist die Moraltheologie zwischen dem Bereich, der sich mit dem universalen Ruf zur Heiligkeit befasst, und jenem Bereich situiert, der sich jenen geistlichen Aufgaben widmet, die durch unsere Wiedergeburt in der Taufe strömen – der Quelle der Gnade, ohne die die Gefahr besteht, dass die christliche Moral auf einen lebensverneinenden Legalismus reduziert wird.


Aus dem Englischen übersetzt von Katrin Krips-Schmidt.

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