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Der Papst und die Wiederentdeckung der Seele Europas

Ob und wie Franziskus Viktor Orbán die Leviten las, galt vielen als Leitfrage zum Papstbesuch in Ungarn. Viel spannender ist seine Vision für Europa.
Papstbesuch in Ungarn
Foto: Andrew Medichini (AP) | Lohnender als die kleinkarierte Frage, ob der Papst dem ungarischen Regierungschef die Leviten gelesen habe, wäre ein Nachdenken darüber, welche Fehlentwicklungen der Papst in Europa diagnostiziert – und welche ...

Pastoral ermutigend und politisch ermahnend: So tritt Papst Franziskus bei seinen Auslandsreisen auf, und das ist auch gut so. Der Marschbefehl des Herrn an Petrus, „Stärke Deine Brüder!“, gilt unverändert für den Petrus unserer Tage. In seiner Predigt, in vielen Ansprachen und Begegnungen kam Franziskus am vergangenen Wochenende in Budapest dieser Pflicht einfühlsam nach. Wie seine Amtsvorgänger nutzt er bei Auslandsreisen die Begegnung mit den Vertretern von Politik, Diplomatie und Zivilgesellschaft aber auch, um Mahnworte zu sprechen, Fehlentwicklungen beim Namen zu nennen und Wegweisungen aus dem Geist des Evangeliums zu formulieren.

Kontinentale Antworten auf globale Herausforderungen

Viele Beobachter scannten die päpstlichen Worte in Ungarn gemäß ihrem vorgefertigten Verdacht: Wann und wie hat Franziskus Regierungschef Viktor Orbán kritisiert? Und ja: Wer emsig suchet, der findet. Nicht nur die Sonntagspredigt mit ihrem vieldeutigen Appell, „offene Türen“ zu sein, kann auf Ungarns Migrationspolitik hin gedeutet werden. Franziskus erinnerte an die Menschen, „die vor Konflikten, Armut und Klimawandel fliehen“, mahnte Europa zu „sicheren und legalen Wegen“ und zu „gemeinsamen Mechanismen angesichts einer epochalen Herausforderung, die nicht durch Zurückweisung eingedämmt werden kann“. Genau hinzuhören lohnt aber, denn der Papst adressierte hier Europa, nicht die ungarische Regierung. Es geht um kontinentale Antworten auf globale Herausforderungen.

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Lohnender als die kleinkarierte Frage, ob der Papst dem ungarischen Regierungschef die Leviten gelesen habe, wäre ein Nachdenken darüber, welche Fehlentwicklungen der Papst in Europa diagnostiziert – und welche Therapie er vorschlägt. Denn Franziskus versucht – wiederum in der Tradition seiner Vorgänger seit Pius XII. – die europäische Einigung wohlwollend wie mahnend zu inspirieren. Man darf ihm also selbstkritisch zuhören, wenn er vor einem Europa warnt, das „Geisel der Parteien“ und „Opfer autoreferentieller Populismen“ wird, das sich „zu einer Art abstrakter Überstaatlichkeit, die das Leben der Völker vergisst“ entwickelt.

Nicht zum ersten Mal warnte der Papst aus Argentinien Europa vor dem „unheilvollen Weg der ideologischen Kolonisierung“, widersprach der Gender-Ideologie und einem falschen Verständnis von Freiheit. In Budapest bezeichnete er das vom französischen Präsidenten Macron wie vom Europäischen Parlament geforderte „Recht auf Abtreibung“ als „sinnwidrig“ und als „tragische Niederlage“.

Nie nur Kritiker, stets auch Wegweiser

Der Papst ist aber nie nur Kritiker, sondern stets auch Wegweiser: In Budapest erinnerte er an „den Traum der Gründerväter“ des vereinten Europa, zitierte Schuman, De Gasperi und Adenauer – drei gläubige Katholiken übrigens. Der Papst rief dazu auf, „die europäische Seele wiederzuentdecken“ – und lieferte selbst einige Bausteine dazu. Das Europa, von dem Papst Franziskus träumt, ist „ein Ganzes, das die Teile nicht plattdrückt“, sondern ihnen hilft, ihre Identität zu bewahren. Als Gemeinschaft, die „errichtet wurde, um Brücken zwischen den Nationen zu bauen“, brauche das vereinte Europa „den Beitrag aller, ohne ihre jeweilige Einzigartigkeit zu mindern“.

Knapper kann man jene drei Prinzipien der katholischen Soziallehre, die die EU offiziell in ihr Selbstverständnis integriert hat, kaum zusammenfassen: Subsidiarität, Solidarität und Gemeinwohl. Viele Entscheidungsträger in der Europäischen Union, aber auch viele christliche Europa-Kritiker haben diesen katholischen Beitrag zur Identität der EU aus dem Blick verloren. Wie gut, aktuell und ermutigend, dass Papst Franziskus uns an ihn erinnert.

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