Frère Roger ist zu früh gestorben. Sein Tod gehört zu den Erinnerungen, die man lieber nicht wieder wachruft. Sein Leben dagegen war ein Zeugnis des gelebten Evangeliums. Es ist gepflastert mit Zeichen der Führung Gottes und zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie Gott bei denen, die ihn lieben, alles zu Guten führt (vgl Apg, 8,28) und seinen Plan für das Leben eines Menschen verwirklicht.
Vor genau 20 Jahren, als sich über eine Million junge Menschen beim Kölner Weltjugendtag zum Taizéabend versammelten, fuhr in Taizè in Frankreich ein Schrei durch die Menge der Gläubigen, die gerade eine Andacht hielten. Kurz kam Bewegung auf und der meditative Taizégesang der ökumenischen Brüdergemeinschaft wurde unterbrochen. Doch ein Taizébruder stimmte das Lied „Laudate omnes gentes“ (Lobt, alle Völker, den Herrn) - und die Andacht nahm ihren Lauf. Kein Aufsehen, keine Panik. Selbst im schlimmsten Moment blieb die Gemeinschaft vereint im Gebet, in jenem kontemplativen Gesang, der bis heute jährlich Tausende von vor allem jungen Menschen anlockt und in Verbindung mit Gott bringt.
Mord mit extrascharfem Messer
Nebenan tat gerade ein Mann seine letzten Atemzüge. Luminiza Solcan, eine Elektroingenieurin aus Rumänien, hatte den Taizégründer Frère Roger Schutz mit einigen Messerstichen ermordet. Mitbrüder der Gemeinschaft hatten ihn hinausgetragen. Wenige Augenblicke später verstarb er.
Solcan galt als psychisch krank und aufgrund ihrer Schirophrenie als gefährlich, war in ihrer Diözese in Rumänien aktenkundig und einschlägig bekannt. Als Motiv beim Mord an Frère Roger, für das sie sich ein extrascharfes Klappmesser besorgt hatte, wurde verrückte Leidenschaft genannt. Möglicherweise war es auch Rache, Wut oder Enttäuschung: Solcan hatte mehrfach Ordensfrau werden wollen, wurde aber überall abgelehnt, auch in Taizé, wo sie es ebenfalls versucht hatte, und das nun ohne Leiter war.
Ein Calvinist mit katholischen Wurzeln
Taizé ohne Frère Roger galt als unvorstellbar. Und doch ist mit ihm Taizé nicht mitgestorben. Die Gemeinschaft, die auf dem tiefen Wunsch von Frère Roger basiert, junge Menschen zu Jesus zu führen und Gräben zwischen den Konfessionen zu überwinden, hatte sich bereits fabelhaft etabliert.
Der 1915 in der Schweiz geborene Roger war streng calvinistisch aufgewachsen, hatte aber auch katholische Wurzeln. Der Vater hatte klare Pläne für alle Kinder und duldete Rogers Wunsch, Schriftsteller zu werden, keinesfalls. Ein Umstand, der dem jungen Mann alles andere als zum Verhängnis wurde. Roger beugte sich dem Willen des Vaters, nahm aber auch Gesangsunterricht. Dann begann er, sich aus der harten Hand des Elternhauses herauszuschälen. Er wollte das Studium schmeißen und sich seinem Vater entgegenstellen.
Ein äußerer Umstand verhinderte seinen Plan: Seine schwangere Schwester wurde sterbenskrank. Roger, der wegen tiefsitzender Schuldgefühle in dem Glauben lebte, unwürdig zu sein, für die Schwester zu beten, traf auf Psalm 27, Vers 8: „Mein Herz denkt an dein Wort: ,Sucht mein Angesicht!‘ Dein Angesicht, Herr, will ich suchen.“ Roger begann zu beten, die Schwester wurde gesund und brachte ihr Kind zur Welt.
Erste Schritte hin zu einer eigenen Gemeinschaft
Diese Gebetserhörung wurde Roger zum Schlüsselerlebnis, das ihm seinen theologischen Weg eröffnete und ihn ihm die Überzeugung wachsen ließ, dass der Herr ihn auch in den schwierigsten Momenten nicht verlasse. Rogers Unlust auf die Theologie war wie weggeblasen. Er widmete sich dem Studium und vertiefte sich in das Mönchtum, gründete eine erste offene Gemeinschaft für Studenten und Akademiker, wurde Leiter einer christlichen Studentenbewegung und schrieb Artikel für die Studentenzeitung.
Später lebte er in einem evangelischen Seminar, bis ihn weitere Ereignisse auf die spätere Tätigkeit in Taizé vorbereiten sollten: die Weltjugendkonferenz in Amsterdam 1939 und andere internationale Konferenzen, die Roger dazu veranlassten, Englisch zu lernen. Der Wunsch, sein Leben in den Dienst Gottes zu stellen, wuchs, und damit seine Führungsqualitäten. Er schrieb noch an seiner Abschlussarbeit zum Thema „Das Mönchsideal bis zu Benedikt und seine Übereinstimmung mit dem Evangelium“ als er beschloss, ein Haus zu suchen, um mit Freunden und Gästen Einkehrtage zu halten, mit ihnen über den Glauben zu sprechen und zu beten.
Rogers Einsatz für Kriegsflüchtlinge
Die Wurzeln der späteren Gemeinschaft in Taizé reichen in die Zeit es Zweiten Weltkriegs zurück. Viele politisch Verfolgte und Juden flüchteten aus dem von den Nazis besetzten Norden Frankreichs in den freieren Süden, von wo aus sie hofften, in die Schweiz gelangen zu können. Roger wollte ihnen helfen. Er besorgte sich ein Visum für Frankreich, radelte von der Schweiz aus nach Südfrankreich, dem Heimatland seiner Mutter, und stieß dabei auf ein heruntergekommenes, fast entvölkertes Dorf: Taizè,
Ein Genfer Notar hatte ihn auf ein freistehendes Haus aufmerksam gemacht. Als eine Frau, bei der Roger zu essen bekam, ihn bat, dieses Haus zu kaufen und zu bleiben, war Roger endgültig überzeugt. Er erwarb das Haus, errichtete darin zuerst eine Kapelle und nahm unter der Gefahr von Verhaftung und Verschleppung Flüchtlinge auf. Mit diesem Haus war der Grundstein für seine Communauté gelegt.
Die Gemeinschaft formiert sich
Zwar kassierte die Gestapo das Haus ein, die Communauté wuchs aber trotzdem, wenn auch zunächst in Genf, wohin Roger mit drei Freunden geflüchtet war. Roger pflegten mit seinen Brüdern, wie sie sich inzwischen nannten, weiterhin den Lebensstil der Communautè. Nach dem Befreiungsschlag durch Charles de Gaulle kehrten sie nach Taizé zurück und nahmen sich dort der Kinder an, die im Krieg ihre Eltern verloren hatten oder von ihnen ausgesetzt worden waren. Ganz organisch, fast von selbst, wuchs eine Gemeinschaft heran, die aus der Erfahrung und einem gemeinsamen Lernprozess heraus ein Leben in Keuschheit, Armut und Gehorsam annahm.
Drei Jahre später entstand die Ordensregeln, wieder später schlossen sich Anglikaner und Orthodoxe der Gemeinschaft an, die peu à peu zu der ökumenischen Gemeinschaft heranwuchs, wie sie heute noch existiert — nicht nur in Taizé, sondern in vielen sozialen Brennpunkten weltweit. Hauptbezugspunkt war und ist Taizé — ein Ort, an dem Ökumene nicht nur gelebt wird, sondern wo auch für Ökumene gebetet wird.
Johannes Paul II. , der nur wenige Monate vorher gestorben war, verband eine tiefe Freundschaft mit Frère Roger. Der Nachfolger von Johannes Paul II., Benedikt XVI., war als noch frischer Papst gerade beim Weltjugendtag in Köln — am Abend des 16. August 2005 wurde ein großes Taizé-Gebet mit Tausenden Jugendlichen in der Kölner Innenstadtkirche Sankt Agnes veranstaltet — als die Nachricht von der Ermordung des Taizé-Gründers die Versammelten erreichte. Neben dem Lobpreis Gottes stand nun das Dankgebet für Frère Roger. Die Jugend, für die sich der Bruder aus Taizé hingegeben hatte, war an jenem Tag bei ihm.
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