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Der Libanon als christliches Reservat

Die Maroniten im Osmanischen Reich, ihre Schutzmacht Frankreich und der lange Weg zu einem eigenständigen Staat.
Harissa: Weiß gefärbte Bronzestatue der Gottesmutter
Foto: (KNA) | Von Harissa, dem bedeutendsten christlichen Wallfahrtsort des Libanon, nördlich von Beirut, blickt eine 15 Tonnen schwere, weiß gefärbte Bronzestatue der Gottesmutter auf das Land der Maroniten herab.

Die christliche Gemeinschaft der Maroniten aus dem Libanongebirge, benannt nach einem syrischen Asketen des 4. Jahrhunderts, unterstellte sich 1182 im Kontext der Kreuzzüge dem Papst in Rom. Sie behielt zwar ihre eigenständige Organisation und Liturgie, war aber seit dieser Zeit mit der katholischen Kirche uniert. Mitte des 15. Jahrhunderts wurde auf dem Konzil von Florenz diese Verbindung bekräftigt.

Beschützerin der orientalischen Christen

Seit diesen mittelalterlichen Anfängen existiert auch eine besondere Beziehung der Maroniten zu Frankreich, das als „fille aînée de l'église“, als älteste Tochter der Kirche, auch Kreuzfahrer-Nation par excellence war und sich als Beschützerin der orientalischen Christen fühlte. Diese Rolle wurde auch weiter gespielt, als der „allerchristlichste König“ (le roi très chrétien), Franz I., im 16. Jahrhundert mit den muslimischen Osmanen eine Allianz gegen den gemeinsamen Gegner Habsburg einging.

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Damals argumentierte man, gerade die Allianz mit dem Sultan in Istanbul ermögliche es Frankreich, sein Christen-Protektorat im Nahen Osten wirksam auszuüben. Faktisch aber war der Schutz der orientalischen Christen lange Zeit auf Einzelfälle beschränkt und von der politischen Großwetterlage abhängig, wenn es auch durchaus förmliche Vereinbarungen (Kapitulationen) diesbezüglich gab.

Rivalität der Großmächte

Eine wirkliche Intensivierung des französischen Christen-Protektorates und die Zunahme seiner politischen Relevanz ergab sich erst unter den Rahmenbedingungen der „orientalischen Frage“, in deren Verlauf das Osmanische Reich, einst Schrecken Europas, dessen Heere zwei Mal – 1529 und 1683 – vor Wien standen, im 19. Jahrhundert zum „kranken Mann am Bosporus“ herabsank. Die Türken gerieten mehr und mehr in die Defensive angesichts des zunehmenden Drucks der technisch überlegenen Armeen der christlichen Großmächte.

Aber gerade die Rivalität der Großmächte garantierte das Überleben des Osmanischen Reiches. Umso intensiver wurde die Konkurrenz der Europäer um Einfluss auf die Hohe Pforte, wie man die türkische Regierung nannte, und in den Provinzen des weit ausgedehnten Türkenreiches. Unter europäischem Druck erließ der Sultan 1839 das umfassende Reformedikt von Gülhane, das vor allem die Rechtsstellung der christlichen Bevölkerungselemente verbesserte, aber gerade deshalb für Spannungen im Reich sorgte.

Christlicher Einfluss

In dieser Lage gewann die Frankreich-Bindung der Maroniten erstmals entscheidende Bedeutung. Lebten die meisten Christen im Osmanischen Reich eher in der Einflusssphäre des orthodoxen Russlands oder – auf dem Balkan – schon geografisch näher an Österreich, befand sich im Libanongebirge, einem typischen Rückzugsgebiet mit Zugang zum Mittelmeer, eine größere „katholische“ Bevölkerungsgruppe mit traditioneller Bindung an Frankreich.

Schon Napoleon hatte gesagt, dass die Maroniten seit undenklichen Zeiten Franzosen seien. Französische Orden waren hier aktiv, französische Kaufleute beeinflussten die Märkte, brachten europäische Industriewaren und kauften libanesische Rohseide für die Lyoner Seidenspinnereien, französische Schiffe liefen die Häfen an. Frankreichs Konsuln ermutigten die Maroniten, ihre Rechte wahrzunehmen, besonders seit den Reformen von 1839, und unterstützten Christen gegenüber den Behörden sowie in Konflikten. Diese Christen-Emanzipation unter französischem Einfluss führte mehr und mehr zu Spannungen im Gefüge des libanesischen Feudalsystems, zu Gegensätzen zwischen Maroniten und Drusen, die hier eng verflochten zusammen lebten.

Häretische Minderheit

Die Drusen waren, ebenso wie die Maroniten, eine – aus muslimischer Sicht häretische – Minderheit, die sich aus diesem Grund ins Libanongebirge zurückgezogen hatte und dort mit den Maroniten koexistierte auf der Grundlage einer gemeinsamen Distanz zur osmanischen Zentralregierung und zu den Mehrheitsmuslimen in den Ebenen und Städten Syriens. Dazu kamen noch schiitische Gruppen, die aus vergleichbaren Gründen die Sicherheit schwer zugänglicher Bergregionen vorzogen.

In dieser Zeit der Umbrüche und Neuorientierung sahen die Maroniten in ihrer Frankreich-Bindung eine wichtige Unterstützung, eine notwendige Stärkung ihrer Position gegenüber den Behörden des Osmanenreichs und den anderen ethnisch-religiösen Gruppen des Libanongebirges. Frankreich sah in den Maroniten eine Gruppe, über die es Einfluss ausüben konnte, im Libanon eine Region, die auf der Grundlage der maronitisch-französischen Kooperation und Interessengemeinschaft ein Gebiet französischer Präsenz und Präponderanz darstellte.

Oft zogen die Maroniten die französische Flagge auf

Oft zogen die Maroniten die französische Flagge auf und bekannten sich zu Paris. Französische Stimmen – Diplomaten, Reisende, Literaten, Geistliche oder Politiker – ließen, wenn sie auch nicht alle offiziell den Libanon für Frankreich forderten, jedenfalls keinen Zweifel daran, dass Frankreich und die Maroniten doch im Herzen und im Glauben vereint waren. Die Briten versuchten, diesen französischen Vorteil auszugleichen durch die Unterstützung der Drusen.

Zunehmende Konflikte gerade zwischen Drusen und Christen und Interessengegensätze, wie sie aus den politischen und gesellschaftlichen Veränderungen fast unvermeidlich entstanden, ließen den europäischen Mächten Reformen notwendig erscheinen. Zwischen ihnen und der osmanischen Regierung wurde ausgehandelt, das Libanongebirge in einen maronitischen und in einen drusischen Bezirk aufzuteilen – Trennungslinie sollte die Straße von Beirut nach Damaskus sein.

Zunehmende konfessionelle Spannungen 

Die Lage war aber so komplex, dass eine Aufteilung in einen drusischen und einen maronitischen Libanon die Situation nicht entspannte, sondern weiter verschärfte. Die konfessionellen Spannungen wurden durch eine Krise des Feudalsystems noch intensiviert. Viele maronitische Bauern unterstanden drusischen Feudalherren. Immer weniger waren sie bereit (auch aufgrund europäischen Einflusses, viele hatten französische Klosterschulen besucht), als archaisch empfundene Herrschaftsformen zu akzeptieren. Die Christen-Emanzipation wiederum verstimmte Muslime und Drusen.

Schließlich entstand 1858 eine Bauernbewegung unter den Maroniten, 1860 brach ein Bürgerkrieg aus und mündete in ein regelrechtes Christenmassaker. Hunderte von Dörfern und Kirchen wurden zerstört. Die Emotionen schlugen hoch in Europa, ein sofortiges Eingreifen wurde gefordert, Frankreich als Schutzmacht der Maroniten war gefordert. Aber es war auch die Stunde der Realpolitiker: Jetzt war der Moment gekommen, in dem Frankreich im Libanon eingreifen und seinen Einfluss verankern konnte, es sogar musste. Angesichts eines Massakers mit fünfstelligen Zahlen an Todesopfern konnten auch England und Russland sowie die Osmanen selbst sich einer Intervention nicht mehr entgegenstellen.

Blutige Ausschreitungen

Die Entsendung einer internationalen Militärexpedition wurde beschlossen – faktisch landeten 6 000 französische Soldaten in Beirut und stießen ins Gebirge vor. Allerdings waren die Massaker längst vorüber – und nach Damaskus, wo es ebenfalls blutige Ausschreitungen gegeben hatte, stießen die französischen Truppen gar nicht erst vor.

Die Lage wurde jedoch genutzt, um 1861 ein autonomes Libanon-Gebiet im Rahmen des Osmanischen Reiches zu schaffen, das international garantiert wurde, in dem die Christen faktisch Vorrang hatten und Frankreichs Einfluss überwog. Nach dem Ersten Weltkrieg bekam Frankreich den gesamten großsyrischen Raum als Völkerbundsmandat. Die Mandatsmacht teilte den Raum in kleinere Einheiten auf, zu denen auch der Libanon gehörte, der 1920 seine heutigen Grenzen erhielt: So wurden die Weichen gestellt für einen libanesischen Staat, der in Folge des Zweiten Weltkrieges in die Unabhängigkeit entlassen wurde.

Da der eigentliche Bezugsrahmen der Libanesen weniger der Staat Libanon als vielmehr ihre jeweilige Religionsgemeinschaft war, wurde die Zahl der Abgeordneten und öffentliche Ämter nach Religionszugehörigkeit festgelegt. Dieser „Konfessionalismus“ sicherte das Übergewicht der Maroniten, die anfangs auch zahlenmäßig die größte Bevölkerungsgruppe waren, und blieb jahrzehntelang erhalten, bis im Zuge einer umfassenden Reform 1990 die Karten neu gemischt wurden. Allerdings scheiterte der Libanon letztlich auch an den unterschiedlichen Bestrebungen seiner muslimischen und christlichen Bewohner.

Der Autor ist Verfasser des Buches „Frankreich und die syrischen Christen 1799-1861“, das 2021 neu erschien.

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