In der Debatte rund um Covid-19 werden Fragen nach der Rolle von Wissenschaft in den Medien und nach der eigentlichen Definition von Wissenschaftlichkeit lauter. Konkret: Welchen Corona-Experten schenkt man mediale Aufmerksamkeit und welchen nicht? Welche wissenschaftlichen Erkenntnisse sollen Journalisten veröffentlichen – und welche lieber für sich behalten?
„Meine Mission ist, wissenschaftlichen Spirit
wie eine Seuche zu verbreiten.“
Darüber entbrannte auf YouTube nun ein Schlagabtausch. Den Ausgang bildete die 34-jährige Mai Thi Nguyen-Kim, die auf der Medienplattform etwas geschafft hat, von dem viele Lehrer nur träumen: Junge Menschen für Naturwissenschaften zu begeistern. Ihr YouTube Kanal „maiLab“, der eigentlich ein Angebot von „funk“, einem Online-Medienangebot der öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF ist, hat immerhin stolze, über eine Million Abonnenten. Das Ziel der promovierten Chemikerin: „Meine Mission ist, wissenschaftlichen Spirit wie eine Seuche zu verbreiten.“
Über die letzten Monate hinweg produzierte die Wissenschaftsjournalistin mehrere Videos, die über das Virus und die Art der medialen Kommunikation öffentlich wirksamer deutscher Virologen aufklären sollen. Nguyen-Kims Fazit: Es braucht mehr Fachleute in den Medien. Bei letzterer Aussage rudert sie in einer aktuellen „MaiLab“-Folge jedoch zurück. „Jetzt, wo mein Wunsch in Erfüllung gegangen ist, dass Wissenschaft mehr Aufmerksamkeit bekommt, muss ich einsehen: Ach, nee“, gibt die Chemikerin in ihrem Video „Corona hat meine Meinung geändert“ bekannt.
Will Mai Thi Nguyen-Kim Qualitätskontrolle für Meinung?
Was sie stört? Die angebliche öffentliche Aufmerksamkeit, die der emeritierte Professor für Mikrobiologie Sucharit Bhakdi für das Buch „Corona Fehlalarm?“, ein Spiegel-Bestseller, erhält. Laut der YouTuberin ist Bhakdi keine „Stimme der Vernunft“. Nguyen-Kim verweist auf Stellungnahmen zweier Universitäten, die sich von den Aussagen des Mikrobiologen distanzieren. Sie würde sich allerdings noch mehr Distanzierung wünschen, gerade vonseiten der öffentlichen Medien. Bhakdi und seine Frau, die Mitautorin des Buches, seien „Extremfälle“ und „schaden der wissenschaftlichen Aufklärung“. Daraus schließt die Chemikerin, dass es eine „Qualitätskontrolle“ für Wissenschaftskommunikation geben müsste. Darunter versteht sie die Einführung einer Art „Qualitätssiegel“. Nach dem soll entschieden werden, welche wissenschaftlichen Thesen Gehör in den Medien bekommen und welche nicht.
Die Kritik auf maiLabs Beitrag ließ nicht lange auf sich warten. Der Schriftsteller, Philosoph und Journalist Gunnar Kaiser reagierte prompt in Form des YouTube-Videos „maiLab liebt die Technokratie“, in dem er Nguyen-Kims Aussagen analysiert und entkräftet. Kaiser, der zu den Gründern des „Appell für freie Debattenräume“ gehört, wirft ihr vor, das zu tun, was seiner Meinung nach heute vermehrt getan wird, um jegliche Diskussion abzuwürgen: die eigene Position als wissenschaftlich darzustellen, die gegnerische als unwissenschaftlich. Zu denken, in der Wissenschaft gäbe es einen Konsens, ist ein typischer Fehlschluss der technokratischen Weltanschauung, denn „Wissenschaft lebt von Dissens, nicht von Konsens“, so Kaiser.
„Zu denken, Wissenschaft sei einheitlich,
ist deshalb höchst unwissenschaftlich.“
Zu denken, Wissenschaft sei einheitlich, ist deshalb höchst unwissenschaftlich. Der Philosoph würde sich wünschen, dass die Chemikerin die Thesen Prof. Bhakdis sachlich überprüft und, bei Bedarf, korrigiert oder verwirft. Dies wird in ihrem Video aber nicht gemacht, auch nicht in den von ihr angegebenen Quellen. Darüber hinaus wird auch nicht erwähnt, dass Professor Bhakdis von der Linie der deutschen Bundesregierung abweichende Expertenansicht zu den Corona-Verordnungen von vielen prominenten Wissenschaftlern geteilt wird, was zum Beispiel in der „Great Barrington Erklärung“ zum Ausdruck kommt. Die Initiatoren der Erklärung fordern einen anderen Umgang im Kampf gegen Covid-19 statt der in vielen Staaten umgesetzten Lockdown-Verordnungen.
Uneinigkeit zwischen Nguyen-Kim und Kaiser herrscht bei der Frage, ob der emeritierte Professor zu viel Medienpräsenz erhält. Erstere bejaht dies. Der Buchautor hingegen ist der Ansicht, dass er als „schwarzes Schaf“ sogar aus den Medien verdrängt wird. Ist es wirklich so dramatisch, wie Kaiser behauptet? In einer Stellungnahme der „Tagespost“ äußert Gunnar Kaiser auf diese Frage, dass seiner Beobachtung nach der „renommierte Experte, der ein sehr gefragtes Buch geschrieben hat, von den großen Medienhäusern und vom öffentlich-rechtlichen Rundfunk ignoriert wird“. Dabei haben diese doch den Auftrag, „gesellschaftliche Belange so breit und neutral wie möglich abzubilden“. Der Journalist weiter: „Der Verdacht, dass hier voreingenommen von den Redaktionen ausgewählt wird, ist ein Armutszeugnis für unsere Presselandschaft.“
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