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Die Totgesagte war nie tot: Religion als Wiedergänger

Hans Joas hat ein Hauptwerk zur Soziologie der Religion vorgelegt. Von Urs Buhlmann
Begeisterung für den Glauben auf den Weltjugendtagen,
Foto: dpa | Es gibt viele Beweise für die Stärke der Religion gegenüber allen Entzauberungsversuchen. Ein schlagender Beweis ist die Begeisterung für den Glauben auf den Weltjugendtagen, wie hier in Brasilien 2013.

Wer dieses Buch lesen will, braucht Zeit, Ruhe und am besten eine Flasche Rotspon. Der aus München stammende und aktuell in Berlin lehrende Soziologe und Sozialphilosoph Hans Joas widmet sich in seinem neuen Buch einem großen Thema der Soziologie: der Macht der Religion, vielmehr ihrem scheinbaren Verschwinden und der doch machtvollen Präsenz, gesehen und bewertet von der Warte seiner Wissenschaft. Es ist dieses Werk – darin liegt sein Reiz und seine Problematik – eine Art unablässiges Zwiegespräch der Gelehrten dieser immer noch relativ neuen Zunft untereinander. Mehr als einmal wird der Leser von den geradezu unendlichen Bezugnahmen, von nicht enden-wollenden Zitaten und Selbstzitaten fast erschlagen. (Hier hilft der Rotwein).

Doch lohnt sich die Lektüre des mit achtzig Seiten Literatur- und Stichwortverzeichnis daherkommenden Bandes ungemein. Denn was der Soziologe Joas in der branchenüblich codierten Sprache mitzuteilen hat, geht alle an: Die Religion ist nicht nur nicht tot, das Gerede von der unaufhaltsamen Säkularisierung, als Folge der „Entzauberung“ der Welt – um den berühmten Begriff Max Webers zu verwenden –, ist für Joas nicht mehr als ein Missverständnis.

Das ist eine beachtliche These, geht doch der Mainstream der öffentlichen Meinung immer noch von einem allmählichen Verschwinden religiöser Praxis und am Ende auch dem der Institutionen aus. Joas macht klar, und nennt auch Namen, dass dies in der Wissenschaft aktuell nur noch von einer Minderheit vertreten wird. Es gehe aber auch nicht, „dass nun die Säkularisierungsthese einfach umgedreht werden dürfe. Mit der Kritik der Annahme, Modernisierung führe notwendig zur Säkularisierung, wird nicht das Phänomen der Säkularisierung vieler europäischer und einiger weniger nichteuropäischer Gesellschaften bestritten; es wird vielmehr nach dessen Erklärung erst richtig gefragt“.

Joas setzt früh an, nennt den schottischen Philosophen David Hume (1711–1767) als ersten, der mit seiner „Naturgeschichte der Religion“ von 1757 – die er vorurteilsfrei als rein menschliches Phänomen betrachten wollte – eine „säkulare Option“ eröffnet habe. Besonderer Erwähnung wird zweier Amerikaner getan, William James (den Joas besonders schätzt) und Josiah Royce. Die beiden Vertreter eines philosophischen Pragmatismus lassen Religion als subjektiv erfahrenes Element bestehen und arbeiten an der Frage, wie man angesichts der Erkenntnisse Darwins Gott noch denken könne.

Schon bald kommt Joas auf die Säulen neuerer religionssoziologischer Forschung zu sprechen, mit denen er sich im weiteren Verlauf des Buches in erster Linie auseinandersetzen wird, auf Emile Durkheim, Ernst Troeltsch und Max Weber. Dem Franzosen, Spross einer Rabbinerdynastie aus Lothringen, kommt das Verdienst zu, die Religionssoziologie quasi ins allgemeine Bewusstsein gehoben zu haben – vor dem Hintergrund der damaligen erbitterten Auseinandersetzung um die strikte Trennung von Staat und Kirche in Frankreich. Für ihn hat Religion eine Funktion im gesellschaftlichen Zu- und Miteinander. Die Bedeutung von Durkheims Ansatz liege, referiert Joas, „zum einen in der Konzentration auf kollektive körperliche Praktiken, zum anderen im Aufweis, dass aus diesen Praktiken die Zuschreibung einer Erfahrungsqualität hervorgeht, die sich von aller alltäglichen Erfahrung unterscheidet. Für die kollektiven körperlichen Praktiken verwendet Durkheim den Begriff ,Ritual‘, für die den Alltag überschreitende Erfahrungsqualität den des ,Heiligen‘“. Der Franzose sah aber auch schon, dass Ritualphänomene, die ,Heiligkeit‘ erzeugen können, auch außerhalb von institutionellen Religionen vorkommen können – und dabei kannte er die kollektive Fußball-Raserei noch gar nicht. Entscheidend für ihn war, das Ritual als Quelle der Heiligkeit anzusehen. So teile sich die Welt in zwei Bereiche auf, das Heilige und das Profane. Profan war alles – ein Ding, ein Wesen, eine Handlung, ein Vorstellungsgehalt, das keine Anknüpfung zum Heiligen aufweist. Mit Judentum und Christentum hatte Durkheim nichts im Sinn, hielt aber wohl – angesichts der Offenheit seiner These – an der Möglichkeit der „Geburt neuer Götter“ fest.

Troeltsch, der sich klar zur Möglichkeit, Christentum und Moderne miteinander zu versöhnen, bekannte, sah in allen Religionen einen Kern, „ein nicht weiter zu analysierendes Erlebnis“. Schon Max Weber kennend, spricht er von Prozessen der Idealbildung und sieht die Kirche als Sozialform des Christentums. Dieses sei durch Universalismus und Individualismus gekennzeichnet, zum einen als „auf die gesamte Menschheit zielendes neues Ideal des Menschentums“, zum anderen als verinnerlichter Gottesglauben, der eine „Menschheit der inneren Freiheit und der Gesinnungsgemeinschaft ohne Macht, Recht, Krieg und Gewalt“ (Troeltsch) anziele. Diese handlungstheoretisch verstandene Kirche grenzt er von der Sekte und der Mystik ab. Als amüsante Pointe nennt Joas noch die Behauptung Troeltschs, das Luthertum habe in den großen politisch-wirtschaftlichen Umwälzungen seiner Zeit zunächst wesentlich reaktionärer reagiert als der Katholizismus, dessen ausgefeilte Kasuistik der entstehenden Geldwirtschaft offener gegenübergestanden habe. Damit wird die bekannte These Max Webers von der Wirtschaftsnähe des Protestantismus umgedreht.

Dieser war bekanntlich der Meinung, es gebe einen tiefverankerten Zusammenhang zwischen Religion und Rationalisierung. Weber setzt hier früh an und sieht schon in den magischen Praktiken als Grundschicht jeder Religion ein durchaus rationales, weil auf einen Zweck gerichtetes Verhalten. Der Aufstieg von Judentum und Christentum mit ihrer universalistischen Ethik und ihrer, gegenüber den antiken Religionen, auf Stärkung der Mitgliedschaft angelegten Organisation habe zur „Entzauberung“ der Welt beigetragen. (Den Katholizismus sah Weber in diesem Zusammenhang als besonders gefährlich, weil besonders zielgerichtet an). Doch sei, in der Meinung des Heidelberger Gelehrten, der Keim zum Untergang der organisierten Religion von ihr selbst gelegt worden. Denn sie falle dem nicht aufzuhaltenden Rationalisierungs-Prozess am Ende selber zum Opfer. Auch „eine moderne Religion im Sinne intellektueller Rechtfertigbarkeit und institutioneller Wirkmächtigkeit unter den strukturellen Bedingungen der zeitgenössischen und zukünftigen Gesellschaft schloss er aus“ (Joas). Nur private Religiosität sei noch möglich. Joas mahnt da zur Vorsicht, er möchte die Webers Denken zugrunde liegenden „gefährlichen Prozessbegriffe“ – Differenzierung, Rationalisierung, Modernisierung – aufgeben, sieht in dessen Vision nicht unsere Zukunft beschrieben.

Allenfalls der „Westen“ säkularisiert sich selber, der Rest der Welt lässt nicht von der Religion oder definiert sich sogar in steigendem Maße durch sie. Hans Joas, der es gut mit der Religion und dem Christentum meint, auch wenn er das als neutraler Wissenschaftler nicht so sagen darf, schlägt vor, von einem „Wandern der Religiosität“ auszugehen, das zurzeit eben die christlichen Großkirchen negativ betrifft. Inwieweit dies hausgemacht ist, inwieweit eigene Fehler zu dieser Entwicklung beigetragen haben und wie dies zu ändern wäre, ist nichts, was Joas hier interessiert. Diese Fragen und ihre Beantwortung muss die Kirche schon selber angehen. Wanderer können aber auch wieder zurückkommen. Denn es ändere sich nicht, was Joas das „Faktum der Idealbildung“ nennt, „dass Menschen in ihrem Zusammenleben wesentlich auch von Idealen geleitet sind, von Vorstellungen über das durch und durch Gute und das durch und durch Böse“. Eine solche Idealbildung ereigne sich, wobei Joas besonders auf Troeltsch rekurriert, stets in enormer Vielfalt und führe in manchen, wenn auch nicht allen Fällen zu Transzendenz-Vorstellungen, zu „Religion“.

Eine der Zumutungen, mit denen Christen im säkularen Zeitalter leben müssen – das ist eine der Lesefrüchte aus Joas' beeindruckendem Buch – ist es, aushalten zu müssen, dass die Leugnung Gottes nicht notwendig zu ethischem Chaos und moralischer Anarchie führt: Menschen können ethisch angemessen – auch im christlichen Sinn angemessen – handeln, ohne an Gott zu glauben. Weil dies eben nicht bedeutet, dass sie keine Ideale hätten. Joas bekennt sich klar zum ethischen Universalismus, der mit Judentum und Christentum in die Welt gekommen sei. Er wendet sich ebenso deutlich gegen „teleologische Geschichtskonstruktionen“, von denen er das Werk Webers jedenfalls nicht frei sieht. Was Joas weniger interessiert – das könnte man dem Buch zum Vorwurf machen – ist die Untersuchung des Gewaltpotenzials von Religion, insbesondere von monotheistischer Religion. Er erwähnt es als Möglichkeit, bleibt aber darin vage. Am Ende dieses bedeutenden Werkes, das zugleich eine Ideengeschichte der Religionssoziologie seit ihren Anfängen ist, gibt sich der Autor damit zufrieden, sich (und uns) in „vielfältige Spannungsverhältnisse“ gestellt zu sehen. Jedenfalls ist die Entzauberungsthese erst einmal entzaubert: Wir steuern nicht unaufhaltsam auf eine religionslose Zukunft zu. Dies scheint ebenso sicher wie dass die zur Zeit herumwabernde Esoterik nicht die Fähigkeit zur „Idealbildung“ besitzt. Was aber sein wird, darüber schweigt Joas sich klugerweise aus. Die Antwort darauf, wissen die Gläubigen, wird von dem kommen, der alles in Händen hält.

Hans Joas: Die Macht des Heiligen – Eine Alternative zur Geschichte von der Entzauberung.
Suhrkamp Verlag, Berlin, 2017, 543 Seiten, ISBN 978-3-518-58703-4, EUR 35,–

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