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Sieg des Feminismus, Niederlage für die Frauen

Die Aufnahme der Abtreibung in die Verfassung ist ein Symbol, das den Staat nichts kostet, außer Menschlichkeit. Für Frauen, die in Frankreich und der Welt an Leib und Leben bedroht sind, ändert sich: nichts.
Abtreibung in Frankreich gilt als Verfassungsrecht
Foto: IMAGO/Ait Adjedjou Karim/ABACA (www.imago-images.de) | Bei der Abstimmung am Montag ging es nicht um die Erhaltung des Status Quo der Abtreibungsgesetzgebung, sondern um den endgültigen Triumph der weiblichen Selbstbestimmung über das Lebensrecht des ungeborenen Kindes.

Nun ist es also passiert. Als erstes Land der Welt hat Frankreich das „Recht“ auf Abtreibung in seine Verfassung aufgenommen. „Historischer Augenblick“, „Sieg der Frauenrechte“, „Vorreiterin Frankreich“: An rhetorischen Superlativen mangelte es bei der gemeinsamen Abstimmung von Nationalversammlung und Senat nicht. Fast 90 Prozent der Abgeordneten und Senatoren stimmten für die Verfassungsänderung, quer durch alle politischen Lager. Damit entlarvten sie das Hauptargument ihrer Befürworter, nämlich dass in Frankreich der freie Zugang zu Abtreibungen politisch gefährdet sei, als das, was es ist: pure Konstruktion. 

Sowjetisch anmutende Zustimmungswerte

Wer über diese sowjetisch anmutenden Zustimmungswerte erstaunt ist, unterschätzt den medialen Druck, der sich in den letzten Wochen auf den Schultern jener aufgebaut hatte, die eine Ablehnung der Verfassungsänderung in Betracht gezogen hatten. Wer unter Beweis stellen wollte, dass er den freien Zugang zu Abtreibungen in Frankreich nicht in Frage stellt, sah sich praktisch gezwungen, für die Verfassungsänderung zu stimmen. Wer Abtreibung nicht in der Verfassung sehen will, ist gegen Frauenrechte, so die Verknappung des Narrativs, dem sich nur 72 Abgeordnete von 902 entzogen haben – die meisten davon aus den Reihen der konservativ-bürgerlichen „Républicains“ und der rechten Partei „Rassemblement National“. Deren Parteichefin Marine Le Pen stimmte für die Verfassungsänderung, der Chef der „Républicains“, Bruno Retailleau, dagegen – nur falls jemand meint, bei gesellschaftspolitischen Fragen von Rechtsaußen besser vertreten zu werden, als von den Bürgerlichen.

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Immerhin: Die „Républicains“ ließen sich vom Justizminister – ein eifriger Abtreibungsbefürworter – versichern, dass die Gewissensklausel für Ärzte nicht die nächste auf der Abschussliste ist. Doch sei ihnen das gesagt, was die Befürworter der Abtreibung seit Monaten mantraartig wiederholen: Nur weil es aktuell keine politische Mehrheit für eine Einschränkung der Abtreibung gebe, gelte das nicht zwangsweise für die Zukunft. Das Gleiche gilt für die Einschränkung der Gewissensfreiheit. Vielleicht kommt sie nicht mit dieser Regierung, dafür aber mit der nächsten.

Und da stellt sich gleich die nächste Frage: Wenn die Erhebung des Rechts auf Abtreibung in den Verfassungsrang keine unmittelbaren rechtlichen Folgen hat, wozu war sie dann gut? Wer den Siegeshymnen bei der gestrigen Abstimmung gut zugehört hat, weiß: Hier ging es nicht um die Erhaltung des Status Quo der Abtreibungsgesetzgebung, sondern um den endgültigen Triumph der weiblichen Selbstbestimmung über das Lebensrecht des ungeborenen Kindes. Dieses sei bereits durch die Verfassung geschützt, trösteten sich wiederum die „Républicains“. Mal sehen, wie lange noch, wenn die erste feministische Organisation unter Hinweis auf das verfassungsrechtlich verbriefte Recht auf Abtreibung auf eine Verlängerung der Abtreibungsfrist klagt.

Ein symbolträchtiger Sieg für Emmanuel Macron

Fürs Erste bleibt die Entscheidung vor allem eines: ein symbolträchtiger Sieg für Emmanuel Macron – und zwar gratis frei ins Haus. Das wäre dann auch das einzige Feld, auf dem er aktuell brillieren kann, während er sich außenpolitisch mit martialischer Rhetorik keine Freunde macht und ihm im eigenen Land die Bauern aufs Dach steigen.

Denn was haben Frauen in Frankreich und der Welt wirklich von der Entscheidung? Die Antwort: nichts. Abtreibungswillige Frauen in Frankreich dürfen weiterhin abtreiben, das durften sie auch vorher. Diejenigen, die ihr Kind gerne behalten würden, sich aber aufgrund mangelnder familiärer und finanzieller Unterstützung zur Abtreibung gezwungen sehen, erhalten auch weiterhin keinen Cent. Nicht einmal ein Gedanke wird an sie verschwendet. Abtreibung ist in Frankreich die neue Verhütung. Die Zahl der Frauen um die 20, die bereits mehrere Abtreibungen hinter sich haben, steigt.

Wer gestern den Premierminister sprechen hörte, musste den Eindruck erhalten, es handele sich beim Gang zur Abtreibungsklinik um eine Art feministischen Sport. Dass Frauen abtreiben, weil sie ungewollt schwanger werden, wird ausgeblendet. Die Senkung der Abtreibungszahlen ist kein politisches Ziel mehr. Die „Rassemblement National“-Abgeordnete, die es wagte, darauf hinzuweisen, dass jede Abtreibung erst einmal ein Drama sei, sah sich ausgebuht. Das ist reiner Zynismus gegenüber allen Frauen, die Abtreibung nicht als autonome Ausübung ihrer Freiheit, sondern als tragische Notwendigkeit empfinden. 

Mehr Gratismut hat die Welt noch nicht gesehen

Man entblödete sich im großen Sitzungssaal in Versailles nicht einmal, sich als Freiheitskämpfer im Namen der unterdrückten Frauen im Iran und Afghanistan hinzustellen. Mehr Gratismut hat die Welt noch nicht gesehen. Wenn der Gesetzgeber sich nun wirklich für Frauenrechte einsetzen wollte, böten sich schon im eigenen Land Möglichkeiten ohne Ende. Doch Frauenmorde, häusliche Gewalt, Vergewaltigungen und erzwungene Abtreibungen bleiben blinde Flecken im Auge der Republik, von den importierten Verbrechen der Zwangsheirat und Genitalverstümmelung ganz zu schweigen. Jedoch: Das gute Gewissen ist erkauft, nun kann man sich entspannt zurücklehnen.

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