„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“, so lautet bekanntlich Artikel 1 (1) des Grundgesetzes. Bei der Begründung der Menschenwürdegarantie schlugen die Väter und Mütter des Grundgesetzes unterschiedliche Wege ein. Der Würdegedanke ergab sich für sie einerseits aus der Gottebenbildlichkeit des Menschen, andererseits aus der Philosophie Immanuel Kants. Bei allen Unterschieden zwischen dem christlichen und dem kantischen Menschenbild eint beide die Überzeugung, dass jeder Mensch als ein Zweck an sich zu achten ist. Niemals also dürfen Menschenleben gegeneinander abgewogen oder Personen instrumentalisiert werden – ganz gleich, wie edel oder menschenfreundlich die entsprechenden Ziele auch erscheinen mögen.
Die katholische Kirche hat die Bedeutung des christlichen Würdegedankens jüngst durch das Dokument „Dignitas infinita“ wieder in Erinnerung gerufen. Darin werden in aller Deutlichkeit „einige schwere Verstöße gegen die Menschenwürde“ benannt, darunter auch die Forderungen der Gender-Ideologie, die Abtreibung und die Leihmutterschaft. In all diesen Fällen verfügen Menschen über sich oder andere, als seien es keine Personen, sondern Dinge, die man zur Befriedigung der eigenen Interessen beliebig manipulieren oder – im Fall der Abtreibung – sogar vernichten kann. All dies ist übrigens auch mit dem kantischen Würdebegriff und seiner Autonomiemoral nicht in Einklang zu bringen. Denn kantische Autonomie meint gerade keine beliebige Verfügungsgewalt über sich oder andere, wie heute ständig mit dem Schlagwort „Selbstbestimmung“ suggeriert wird.
Kaum war die von Franziskus unterzeichnete Erklärung zur Menschenwürde veröffentlicht, begehrten auch schon die Mächte dieser Welt dagegen auf. In Deutschland ging es Schlag auf Schlag: Am vergangenen Freitag verabschiedete der Bundestag das „Selbstbestimmungsgesetz“, das ein staatlich sanktioniertes Reich der Lüge errichtet. Insbesondere die Würde von Frauen, Kindern und Jugendlichen ist in Gefahr, indem sie zum Spielball einer realitätsfeindlichen Ideologie gemacht werden. Am Montag folgte dann der schon länger angekündigte Bericht einer von der Bundesregierung eingesetzten Expertenkommission zu den Themen Abtreibung, Eizellspende und Leihmutterschaft. Das geltende Verbot der Eizellspende erscheint der Kommission als „nicht mehr stichhaltig“, ein Verbot der Leihmutterschaft zumindest noch begründungsfähig, wenn auch „nicht zwingend geboten“. Dass Menschen durch derartige Praktiken offensichtlich wie käufliche Ware und nicht wie intrinsisch würdevolle Personen behandelt werden, scheint an diesen Experten vorbeigegangen zu sein.
Am extremsten äußerte sich die Kommission zu Abtreibungen. Diese sollten ihr zufolge „in der Frühphase der Schwangerschaft rechtmäßig sein“. Ein Kommissionsmitglied sprach davon, dass in der Frühphase der Schwangerschaft „die Belange des Ungeborenen und die Belange der Schwangeren anders zu gewichten“ seien als in späteren Phasen. Eine verräterische Formulierung, ist es doch gerade ein zentrales Merkmal der Würde, dass sie sich nicht graduieren lässt: Als Ebenbilder Gottes haben alle Menschen – ob groß oder klein, gesund oder behindert – dieselbe Würde.
Indem die Regierung den Würdebegriff aushöhlt, legt sie die Axt ans Grundgesetz. Die katholische Kirche, mit Papst Franziskus an der Spitze, erweist sich dagegen als die letzte Bastion der Menschenwürde und damit auch der Grundlage dieses Staates.
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