Nein, Bundeskanzler Olaf Scholz steht wirklich nicht in Verdacht, ein Anhänger Kaiser Wilhelms II. zu sein. Aber so ein kleiner Hauch von Wilhelminismus zieht immer durch das Land, wenn es sich im Krisenmodus befindet. Die Deutschen sind in politischen Fragen harmoniesüchtig. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.“ Dieses Zitat von Wilhelm Zwo kommt dem Ideal vieler Bürger schon ziemlich nahe. Parteienstreit, obwohl ein Wesenselement einer lebendigen Demokratie, gilt als unfein.
Die Große Koalition, stets stark beschimpft, als sie eine ganze Dekade lang real existierte, ist der eigentliche Favorit des Wählers. Mit diesem Grundgefühl hat Bundeskanzler Olaf Scholz gespielt, als er in der vergangenen Woche mit Oppositionsführer Friedrich Merz zusammentraf, um Gemeinsamkeiten zwischen Roten und Schwarzen in der Migrationspolitik auszuloten.
Will Scholz die GroKo 2.0?
Sofort liefen in der Gerüchteküche die Herdplatten heiß: Liebäugelt der Kanzler etwa mit einer Wiederauflage des Bündnisses mit der Union? Stehen die Zeichen auf GroKo 2.0? Schaut man genau hin, ergibt sich ein anderes Bild. Scholz hat vermutlich solche Spekulationen bewusst einkalkuliert, will aber etwas Anderes. Seine störrischen Koalitionspartner will der Kanzler so zur Räson bringen. Er zeigt ihnen die Instrumente – sie sollen begreifen: Ihr seid nicht alleine, unter der Koalitionsdecke lässt sich auch gut schwarz kuscheln. Vor allem die Grünen sollen dank dieser Taktik in der Migrationsfrage einlenken.

Ob diese Idee aufgeht – die Chancen stehen gar nicht so schlecht – wird sich zeigen. Beruhigend ist jedenfalls, dass Scholz nicht zur Harmoniefraktion zählt, sondern letztlich einen realistischen Blick auf Politik hat. Das Spielerische gehörte schon immer mit dazu. Die Römer haben das gewusst, die Griechen sowieso, die geradezu davon besessen waren, sich ständig in Wettkämpfen zu messen. Die res publica gehörten da als Feld ganz selbstverständlich dazu.
Parlamentarische Kultur wird in Zukunft wieder wichtiger werden
Die Briten pflegen seit jeher dieses agonale Prinzip. Hier wurzelt das Modell der Westminster Demokratie. Auch wenn das im Mutterland des Parlamentarismus selbst nicht mehr wirklich gepflegt wird, den Deutschen würde es gut anstehen, sich an diesen Grundprinzipien zu orientieren. Denn parlamentarische Kultur – das Gegenstück zu Brandmauer-Konzepten – wird in Zukunft wichtiger werden. Es wird tendenziell im nächsten Bundestag, aber auch in den Ländern mehr Parteien geben. Da wird ein anderer Abgeordneten-Typ gebraucht.
Die Deutschen leiden aber immer noch unter dem Trauma ihrer späten Einigung als Nation. Daher rührt die Faszination für die geschlossene Reihe. Übrigens erklärt dies auch, warum der Vorwurf der Spaltung bis heute das Schlimmste ist, was einem deutschen Politiker geschehen kann. Dass aber gerade diese im Grunde unpolitische Haltung auch Spaltungen nach sich zieht, wird ignoriert. Die Zeit heilt offenbar nicht alle Wunden.
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