Die Demonstration der Unterstützer des Wagenknecht/Schwarzer-Manifests war nicht nur eine Anti-NATO-Kundgebung, ein nostalgisches Revival für Veteranen der Friedensbewegung oder ein Happening des Antiamerikanismus. Das war sie alles auch. Vor allem aber war sie eine Kampfansage an die Staatsräson der Bundesrepublik. Die politischen Lager in Deutschland sortieren sich neu. Die Demo in der Hauptstadt hat offenbar gemacht, wo die Bruchstelle liegt. Es geht nicht mehr um rechts oder links, sondern um die Frage, ob Deutschlands "langer Weg nach Westen" (Heinrich August Winkler) als eine Erfolgsgeschichte verstanden wird, die es fortzusetzen gilt,oder aber als ein Irrweg zu deuten ist. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Binnenstruktur des rechten wie des linken Lagers alt-bundesrepublikanischer Prägung. Wenn nun über eine "Querfront" spekuliert wird, die sich aus antiwestlichen Kräften von rechts wie von links bilden könnte, ist dies der Versuch, dieser neuen Konstellation Rechnung zu tragen.
Die Querfront war schon immer latent vorhanden
Blickt man aber auf die Geschichte der Bundesrepublik zurück, so zeigt sich, dass diese "Querfront" nichts Neues ist. Sie war schon immer latent vorhanden, man schaue etwa auf die Debatten über die Stalin-Note oder die Wiederbewaffnung in den 50er Jahren oder die Auseinandersetzung über den NATO-Doppelbeschluss in den 80ern. Bisher ist diese politische Richtung nur in den Grundsatzentscheidungen über den Weg der Bundesrepublik Westbindung, Soziale Marktwirtschaft, europäische Einigung immer unterlegen. Der Unterschied zur Vergangenheit liegt darin, dass diese politischen Strömungen sich nun anschicken, sich organisatorisch neu zu formieren und dabei eine Wirkungskraft entfalten, die bisher unbekannt war.
Was sind die Ursachen? Da ist zunächst die nachlassende Integrationswirkung von CDU und CSU nach rechts. Die Union ist, wenn man so will, die "Bundesrepublik-Partei". Unter Konrad Adenauer wurde die "Westbindung" zur Staatsräson und unter Helmut Kohl wurde auf dieser Basis die Wiedervereinigung vollzogen. Die Union ist eine nicht-linke Sammlungsbewegung. Eine historische Leistung besteht darin, dass sie durch die Einbindung rechter und nationaler Kräfte deren Anfälligkeit für antiwestliches Denken neutralisiert hat. Dieser Prozess ermöglichte es ehemaligen Deutsch-Nationalen in der Nachkriegszeit, ohne vollkommen mit ihrer politischen Vorgeschichte zu brechen, trotzdem eine positive Grundhaltung zu der neuen Staatsräson der Bundesrepublik einzunehmen. Bei den politischen Nachfahren dieser Gruppe funktioniert dieser Effekt nicht mehr. Das zeigt etwa die "Werteunion". Sie ist in ihrer Struktur zwar durchaus vielschichtig und hat auch viele Mitglieder, die vor allem mit der Abkehr von "klassischen" CDU-Positionen in Fragen der inneren Sicherheit, der Flüchtlings- und der Wirtschaftspolitik in der Ära Merkel hadern. Sie ist aber zumindest auch anfällig für antiwestliche Töne wie der Fall ihres ehemaligen Vorsitzenden und späteren AfD-Bundespräsidentschaftskandidaten Max Otte beweist.
Auf der linken Seite ist eine Bindungskraft weggefallen
Und auch auf der linken Seite ist eine Bindungskraft weggefallen, die antiwestliche Strömungen zur Mitte hin integrieren konnte: die Grünen. Die Partei war in ihrer Gründungszeit der politische Arm der Friedensbewegung. Durch eine neokonservative Wende in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die von Annalena Baerbock beherzt umgesetzt wird, ist der pazifistische und neutralistische Flügel der Partei heimatlos geworden. Pars pro toto steht für diese Richtung unter den Unterzeichnern des Wagenknecht-Manifests die ehemalige Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer.
Ob Sahra Wagenknecht tatsächlich alle diese politisch Heimatlosen unter einem neuen Dach sammeln will, ist immer noch nicht klar. Die Demo in Berlin kann aber als ein erster Schritt verstanden werden.
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