Gegen die Erwartungen und offenbar auch die Hoffnungen der allermeisten Europäer haben die türkischen Wähler das Ende der Ära Erdoğan vorerst einmal abgesagt. Recep Tayyip Erdoğan, der die Türkei bereits seit zwei Jahrzehnten führt – zunächst als Ministerpräsident, seit 2014 als Präsident -, errang in der Stichwahl 52,1 Prozent; sein Herausforderer Kemal Kiliçdaroğlu 47,9.
Der Abstand von zwei Millionen Wählern ist eindeutig genug, um am Wahlsieg des Amtsinhabers nicht zu zweifeln, aber doch so knapp, dass man die Türkei auch weiterhin für demokratisch genug halten darf, dass ein Machthaber die Wähler fürchten und darum umwerben muss. Gewiss waren die zwei Wahlrunden alles andere als fair: Erdoğans AKP hat die meisten Massenmedien im Griff, vor allem das Fernsehen, das viel Sendezeit für den Machterhalt zur Verfügung gestellt hat.
Keine Diktatur wie Russland
Auch sparten beide Seiten nicht mit drastischen Lügen: Erdoğan rückte seinen Konkurrenten in die Nähe von PKK-Terroristen; dieser wiederum behauptete, Erdoğan habe zehn Millionen Flüchtlinge ins Land geholt, die er als Präsident allesamt in ihre Heimat rückführen werde. Tatsächlich leben weniger als vier Millionen arabische Flüchtlinge, überwiegend aus Syrien, in der Türkei. Mit dem Versprechen, sie alle heimzuschicken, spielte Kiliçdaroğlu auf dem Klavier des türkischen Nationalismus.
Trotz eines unverkennbaren autoritären Trends und ganz einer auf den Präsidenten zugeschnittenen Verfassung ist die Türkei keine Diktatur im Stil Russlands oder Chinas. Das wird sich neuerlich bei den Kommunalwahlen im Herbst zeigen, wenn die Bürgermeister gewählt werden. In Ankara und Istanbul verteidigen bei diesem Wahlgang zwei prominente Erdoğan-Gegner die Macht im Rathaus.
Eine Isolierung der Türkei ist unmöglich
Um die eigenen Narrative zu stützen, berichteten manche deutschsprachigen Medien am Sonntagabend genüsslich, Viktor Orbán und Wladimir Putin hätten Erdoğan bereits zum Wahlsieg gratuliert. Jedoch hatten ebenso Bundeskanzler Olaf Scholz, Emmanuel Macron und Joe Biden ihre Glückwünsche übermittelt. So sind nun mal die diplomatischen Gepflogenheiten.
Sie spiegeln auch die Einsicht, dass man mit Präsident Erdoğan und seiner AKP in den kommenden Jahren rechnen muss. Eine Isolierung der Türkei ist aufgrund ihrer Größe und geografischen Lange unmöglich; ihr schrittweises Abrutschen in die russisch-iranisch-chinesische Einflusszone kann keinesfalls im Interesse des Westens sein. Es bleibt also nichts, als in den sauren Apfel zu beißen: An Erdoğan führt zumindest vorerst kein Weg vorbei.
Lesen Sie in der kommenden Ausgabe der Tagespost weitere Informationen zur Wahl in der Türkei.