Kommentar um "5 vor 12"

Erdoğan: Ein lupenreiner Demokrat?

Der medial bereits Totgesagte lebt wieder einmal länger. Und die Auslandstürken in Deutschland und Österreich stärkten seine AKP.
Nach Wahl in der Türkei – Reaktionen in Ankara
Foto: Ali Unal (AP) | All die Redakteure und Kommentatoren, Politikwissenschaftler und Politiker, die ihre Nachrufe auf Recep Tayyip Erdoğan bereits verfasst haben, müssen sich noch gedulden.

Der Champagner muss wohl noch im Eisfach bleiben. All die Redakteure und Kommentatoren, Politikwissenschaftler und Politiker, die ihre Nachrufe auf Recep Tayyip Erdoğan bereits verfasst haben und in dieser Woche einen türkischen Frühling feiern wollten, müssen sich noch gedulden – entweder zwei Wochen oder fünf Jahre.

Ist die Türkei demokratischer als gedacht?

Die Zeit darf man zum Nachdenken nutzen. Etwa darüber, ob die Türkei nicht doch viel demokratischer ist als wir zuletzt dachten. Welcher machtbesessene Autokrat würde jemals zulassen, eine ganz auf seine Person zugeschnittene Wahl mit 49,5 Prozent knapp zu verfehlen? Wladimir Putin, den Ex-Kanzler Gerd Schröder einmal als „lupenreinen Demokraten“ bezeichnete, ganz sicher nicht. Trotz aller autokratischen Tendenzen, trotz eines recht demolierten Justizsystems, trotz 20 Jahren AKP-Herrschaft ist die Türkei eine so stabile Demokratie, dass Erdoğan sich jetzt einer Stichwahl gegen seinen Herausforderer Kemal Kiliçdaroğlu stellen muss. Deren Ausgang ist übrigens völlig ungewiss.

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Noch ein zweites Indiz beweist, dass die AKP weiterhin eine Volkspartei ist – und Erdoğan weiterhin ein echter Volkstribun: Unter den mehr als drei Millionen Auslandstürken sind der Präsident und seine Regierungspartei noch populärer als im Inland. 65 Prozent der in Deutschland und 72 Prozent der in Österreich lebenden Türken stimmten für Erdoğan. Was das für deren Staats- und Politikverständnis, in Folge auch für deren Integration in die Wirklichkeit des deutschen und österreichischen Rechtsstaats bedeutet, darf die Politikwissenschaft beschäftigen.

In der Türkei wie unter den Auslandstürken hängt Erdoğans Popularität offenbar nicht vom wirtschaftlichen Erfolg seiner Politik ab. Denn das kleine türkische Wirtschaftswunder ist vorbei, das Land steckt in einer dramatischen Krise, die Inflation trifft alle Schichten der Gesellschaft. Doch weder die Wirtschaftskrise noch das Staatsversagen beim Erdbeben-Management haben den alternden Autokraten hinweggefegt. Er kann vielmehr selbstbewusst in die Stichwahl gehen. Und egal wie diese ausfällt: Das Kopf-an-Kopf-Rennen hat bereits jetzt bewiesen, dass die türkische Demokratie vitaler ist als alle Nachrufe auf die AKP.

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Stephan Baier Demokratie Recep Tayyip Erdoğan Wirtschaftskrisen Wladimir Wladimirowitsch Putin

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