Exklusivinterview

Ein Machtmensch, der die Zeichen der Zeit liest

„Nach 20 Jahren AKP-Regierung ist die Türkei noch immer kein islamischer Staat“, sagt Cengiz Günay, Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (oiip).
Erdogan muss diesmal der Volkstribun die Wahl fürchten.
Foto: IMAGO (www.imago-images.de) | Diesmal muss der Volkstribun Recep Tayyip Erdoğan die Wahl fürchten. Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag droht seine Macht zu erodieren.

Herr Günay, seit zwei Jahrzehnten führen Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP die Türkei. Geht diese Epoche nun mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai zu Ende?

Ein politischer Wechsel ist längst überfällig. Es tut keinem Land gut, wenn eine Regierung 20 Jahre an der Macht ist. Das begünstigt Intransparenz und Verfilzung. Die AKP war zunächst eine Reformbewegung, hat jedoch in den vergangenen zehn Jahren die Autokratisierung vorangetrieben. Ein parlamentarisch-demokratischer Staat wurde zu einem ganz auf Erdoğan zugeschnittenen Präsidialsystem umgebaut.

Erdoğan war anfangs eine Art Volkstribun, der gegen das damals kemalistische Establishment antrat. Heute muss er – anders als Putin – Wahlen fürchten.

Man kann die Türkei nicht mit Russland vergleichen. Die Türkei hat 1945 den Übergang zu einem Mehrparteiensystem eingeleitet. Es gab einen politischen Wettbewerb, um den herum sich Medien, zivilgesellschaftliche Institutionen und eine politische Kultur entwickelt haben. Unter Erdoğan ist es zu einer autokratischen Entwicklung gekommen. Die demokratischen Institutionen und Prozesse wurden nicht aufgehoben, aber ausgehöhlt. Es gibt heute in der Türkei ein Oppositionsbündnis, das die Macht von Präsident Erdoğan tatsächlich herausfordern kann. Zweifellos ist der AKP-Chef ein begnadeter Wahlkämpfer, der Modernisierung und finanziellen Aufschwung versprochen hat. Genau das ist allerdings jetzt ins Stocken geraten.

"Zweifellos ist der AKP-Chef ein begnadeter Wahlkämpfer,
der Modernisierung und finanziellen Aufschwung versprochen
hat. Genau das ist allerdings jetzt ins Stocken geraten"

Werden die Wahlen am 14. Mai frei, aber nicht fair sein?

Ja. Die Wahlen sind nicht fair, weil staatliche Ressourcen und der Zugang zu den Medien ungleich verteilt sind. Aber die Wahlen sind frei, also nicht vergleichbar mit kommunistischen Systemen.

Das kemalistische System, das die AKP vor 20 Jahren vorfand und bekämpfte, war auch nicht perfekt demokratisch, vor allem wegen der Macht des Militärs. Schien Erdoğan da nicht zunächst ein demokratischer Reformer zu sein?

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Tatsächlich war das System um 2000 in einer tiefen Krise, die auch eine Wirtschaftskrise war. Die Türkei ist ein sehr großes und überaus diverses Land unterschiedlicher Identitäten. Ihre Gesellschaft ließ sich nicht mehr in das Korsett eines unitaristischen, laizistischen, vom Militär kontrollierten Staates pressen. In der AKP sammelten sich nicht nur konservative und ländliche Kreise, sondern auch Liberale und Linke, die diese Reformbewegung anfangs unterstützten. Ihnen ging es um mehr demokratische Freiheiten, etwa für die Kurden, und um die Annäherung an die EU. Die AKP war eine Volkspartei, die in ihrer Rhetorik das Volk gegen die abgehobene, autoritäre Elite in Stellung brachte. Viele Linke und Liberale unterstützten die AKP, bis es zur Einschränkung bürgerlicher Freiheiten kam.

Von großer Symbolik war der Kopftuchstreit, weil der ideologische Laizismus der herrschenden Kemalisten traditions- und religionsverbundene Menschen vom gesellschaftlichen Aufstieg ausgrenzte.

Die Kopftuchfrage zeigte die inneren Widersprüche des kemalistischen Modernisierungs-Konzepts. Der Kemalismus wollte von oben herab zunächst den Staat und seine Institutionen, und dann durch diese die Gesellschaft im Sinn der Moderne transformieren. Noch in den 1930er Jahren glaubte man, dass es einen einzigen Weg der Modernisierung gebe. Das wurde zunehmend hinterfragt. Wenn man versucht, Religion politisch zu reglementieren, dann wird es – wie im Streit um das Kopftuch – zu einem Politikum, wie Religion ausgelebt werden kann. Das Kopftuch-Verbot an den Universitäten war zutiefst unsinnig, weil so die Frauen aus konservativen Schichten ausgeschlossen wurden, für die der Zugang zu höherer Bildung doch gerade eine Chance gewesen wäre.

Wie der ideologische Laizismus der Kemalisten die Religiösen ausgrenzte, so grenzte ihr ideologischer Nationalismus die Kurden aus.

Ab den 1990er Jahren spielten Identitätsfragen eine immer größere Rolle. Das kollidierte mit der Idee eines ent-ethnifizierten öffentlichen Raums, in dem das Türkentum eine Art Über-Identität war, in die sich auch die Kurden integrieren sollten. Die AKP hat das Nationale lange nicht so stark betont, sondern definierte die Türkei als religiöse Gemeinschaft. Das zog viele konservative Kurden an, die anfangs vielfach AKP wählten.

In ihren ersten Regierungsjahren versuchte Erdoğans AK-Partei, Probleme mit den Nachbarn beizulegen: in der Zypern-Fragen ebenso wie gegenüber den Armeniern.

Die AKP gab vielen im internationalen Diskurs anfangs Hoffnung, weil hier aus einer islamistischen Bewegung heraus eine durchaus pragmatische Politik entstand, die demokratische und liberale Werte umgesetzt, Marktwirtschaft propagiert und den EU-Beitritt vorangetrieben hat. Die Hoffnung aus der Ferne war, dass sich die islamische Welt daran orientieren könnte. Darauf aufbauend entwickelte der türkische Außenminister Ahmet Davutoğlu sein Konzept der „strategischen Tiefe“. Dann aber verloren in der Türkei liberale Kräfte an Bedeutung, die internationalen Rahmenbedingungen änderten sich ab der Finanzkrise von 2008. Und 2011 führte der „Arabische Frühling“ zu Chaos.

Waren die Reformen der Anfangsjahre von der AKP ernst gemeint oder nur ein großer Bluff?

Erdoğan ist ein Pragmatiker und Machtmensch, der die Zeichen der Zeit liest und sich danach ausrichtet. Ihm geht es immer um die Maximierung seiner Macht und seines Einflusses. Mit den Rahmenbedingungen änderte sich auch der Einfluss von Personengruppen auf ihn. Die Öffnung gegenüber Armenien etwa war Teil eines größeren Projekts, die Türkei als wichtigen Partner des Westens und als Regionalmacht zu positionieren.

"Erdoğan ist ein Pragmatiker und Machtmensch,
der die Zeichen der Zeit liest und sich danach ausrichtet"

Ist Recep Tayyip Erdoğan also gar kein Ideologe?

Er hat unstrittig einen ideologischen Hintergrund. Aber er setzt die islamischen Referenzen ein, wenn er sie braucht, und lässt sie weg, wenn er sie nicht braucht.

Während des sogenannten „arabischen Frühlings“ versuchte Erdoğan, die arabischen Massen gegen ihre Autokraten zu inspirieren: in Ägypten gegen Hosni Mubarak, in Syrien gegen Bashar al-Assad.

Cengiz Günay
Foto: oiip | Cengiz Günay ist Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (oiip) sowie Lektor am Institut für Politikwissenschaft, dem Institut für internationale Entwicklung und dem Institut für ...

Die neo-osmanische Außenpolitik war seinem Herzen nahe, aber es ging ihm stets um den regionalen Einfluss. Wie sich Wladimir Putin einmal auf die Sowjetunion bezieht und dann wieder auf das Zarenreich, so sieht sich Erdoğan gerne als Nachfolger der osmanischen Sultane, aber es geht ihm stets um den regionalen Einfluss, also um Macht. Die Türkei hatte sich lange zu stark einseitig am Westen orientiert und ihre östliche Nachbarschaft vernachlässigt. Das wollte Erdoğan korrigieren. Letztlich hat der „arabische Frühling“ aber nicht zu einem größeren Einfluss Ankaras in der Region geführt. Die AKP unterstützte die moderaten islamistischen Kräfte, wie die Muslimbruderschaft, gegen die Militärs ihrer Länder – und hat damit auf die falsche Karte gesetzt.

War die Verleihung des Status eines EU-Beitrittskandidaten nicht von Anfang an ein Irrtum, und zwar für beide Seiten?

Als die EU den osteuropäischen, postkommunistischen Staaten den Beitritt in Aussicht stellte, war das aus türkischer Sicht ein Affront, weil man sich selbst lange als östlichster Außenposten des Westens verstand. Nun kam es zu einer Vorreihung der Osteuropäer. Die religiös-kulturelle Prägung der Türkei wurde in Europa eigentlich nie problematisiert, bis die EU Beitrittsverhandlungen mit Ankara aufnahm. Nicht nur mit Blick auf die Türkei, sondern auch auf Südosteuropa und die Ukraine ist das Problem, dass die EU jenseits der Beitrittsperspektive über kein relevantes außenpolitisches Instrumentarium verfügt. Der Westen braucht die Türkei als unverzichtbaren strategischen Partner. Die USA warben deshalb damals stark für eine türkische EU-Mitgliedschaft, um die Türkei in einen sicheren Hafen zu ziehen.

Nach den Aufbrüchen der ersten Regierungsjahre setzte ab 2013 eine Phase der Repressionen ein.

Es fand eine Okkupation des Staates und seiner Institutionen statt. Langsam und schleichend gingen alle Postenbesetzungen in eine Richtung, der Autoritatismus wuchs, Einschränkungen von Protesten und Demonstrationen nahmen zu. Es kam zum Rosenkrieg zwischen Gülen-Bewegung und AKP. Den Putschversuch von 2016 bezeichnete Erdoğan als Geschenk Gottes, denn er konnte nun vorantreiben, was er lange geplant hatte: ein auf sich zugeschnittenes Präsidialsystem und die Abrechnung mit Widersachern. Ohne die Hilfe der ultranationalistischen MHP hätte die AKP diese Politik nicht durchführen können. Die AKP wurde zur reinen Erdoğan-Partei. Die Parteielite profitiert auch finanziell stark, während die Masse angesichts der Wirtschaftskrise immer weiter abrutscht.

Kam es zu der vielfach gefürchteten Islamisierung in der Türkei?

Nach 20 Jahren AKP-Regierung ist die Türkei noch immer kein islamischer Staat, auch wenn die Schul- und Sozialpolitik islamische Werte stark fördert. Laut Umfragen ist die Religiosität unter Jugendlichen extrem niedrig, was in der Regierungspartei zu Diskussionen führt. Dabei nimmt die Religiosität genau deshalb ab, weil die Religion so stark für politische Diskussionen instrumentalisiert wird. Wenn Erdoğan im Vorhof einer Moschee Wahlkampfreden hält, ist das auch für Konservative nicht in Ordnung.

Ist Erdoğan außenpolitisch gescheitert: mit den neo-osmanischen wie den europäischen Ambitionen?

Das sehe ich nicht so. Für eine regionale Führungsrolle reichen die wirtschaftlichen Ressourcen nicht aus, aber die Türkei geht ihren eigenen Weg. Sie lässt sich nicht mehr vom Westen vorschreiben, was sie zu tun hat, sondern entscheidet selbst. Sie ist ein schwierigerer, autonomerer Partner in der NATO, weil sie den eigenen Interessen folgt. Auch Erdoğan-Kritiker sind beeindruckt, wie er Schweden im Sinn der eigenen Interessen bewegt hat. Aus der türkischen Perspektive sind die Europäer und die Amerikaner unzuverlässig, nicht die eigene Regierung.

Das kleine türkische Wirtschaftswunder trieb der AKP lange die Wähler zu. Jetzt aber herrscht die Wirtschaftskrise.

Wenn die AKP abgewählt wird, dann wegen der Wirtschaftskrise und der Fehler rund um das Erdbeben. Weil alle Statistiken gemäß dem Interesse der Regierung manipuliert werden, wissen wir weder präzise, wie hoch die Inflation ist noch wie viele Erdbebenopfer es tatsächlich gibt. Das beschädigt das Vertrauen in die Institutionen und polarisiert die Gesellschaft.

"Wenn die AKP abgewählt wird, dann wegen
der Wirtschaftskrise und der Fehler rund um das Erdbeben"

Hat die türkische Opposition eine Vision für das Land?

Bislang war die Opposition schwach darin, aufzuzeigen, was sie wirklich will. Im Wahlkampf wurden einige Programme vermittelt, die sich auf die Wirtschaftskrise beziehen. Aber vielleicht braucht es derzeit auch einen eher uncharismatischen Führer wie CHP-Chef Kemal Kiliçdaroğlu, der ruhiger ist und weniger Visionen präsentiert als die vergangenen 20 Jahre.

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