Journalisten sind gut beraten, mit dem Mitleid zu geizen, das sie als Beobachter des Parlamentsbetriebs hin und wieder auch für Abgeordnete empfinden mögen. Nicht bloß, weil niemand gezwungen wird, sich dort um Sitz und Stimme zu bewerben. Sondern auch, weil – mit Ausnahme der eigenen Inkompetenz – nichts ein professionelles Urteil so sehr erschwert wie Mitleid.
Diabolische Wahl
Und doch gibt es vermutlich kein zweites Thema, bei dem Mitleid mit den gewählten Volksvertretern derart angebracht ist, wie bei der gesetzlichen Neuregelung der Suizidhilfe. In Wahrheit verlangt der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts mit seinem Urteil vom 26. Februar 2020 unter dem Vorsitz eines Gerichtspräsidenten, der sich hernach einen schlanken Fuß machte und auf seinen warmgehaltenen Lehrstuhl an die Universität Freiburg zurückkehrte, von den Parlamentariern nicht weniger als eine Quadratur des Kreises.
Sie sind vor die nur „diabolisch“ zu nennende Wahl gestellt, die Suizidhilfe entweder gesetzlich ungeregelt zu lassen oder aber ein Regelungswerk zu ersinnen, welches, das von Voßkuhle et al. erfundene „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ exekutiert.
Keine Heilung möglich
Im Grunde hat der Gesetzgeber keine realistische Möglichkeit, noch die Ignoranz, mit welcher der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die ihm vor seinem Urteil vorliegenden empirischen Erkenntnisse der Suizidforschung mutwillig ignorierte, noch irgendwie zu heilen. Eines ist jedoch sicher: Der Mühlstein, den sich die Karlsruher Richter mit diesem Urteil um den Hals gehängt haben, wiegt schwer.
Ethik nicht ignorieren
„Sometime they'll give a war and nobody will come“, heißt es in „The People, Yes“, einem Prosa-Gedicht des US-amerikanischen Dichters und Lincoln-Biografen, Carl August Sandburg (1878-1967). Deutschen ist diese Zeile von der Friedensbewegung oft mit: „Stell' Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“ übersetzt und – fälschlicherweise – Berthold Brecht zugeschrieben worden.
In Sandburgs Gedicht spricht diese Zeile ein unschuldiges Mädchen. Und genau dies ist der Geist, den Deutschland jetzt braucht. „Stell' Dir vor, Sie geben Dir die Gelegenheit zum Suizid, und niemand macht Gebrauch davon.“ Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags – und auch die Ärzteschaft – sollten sich zu schade sein, um etwas zu exekutieren, das sowohl Empirie als auch Ethik ignoriert. Stattdessen sollten sie die Mittel für die Suizidprävention und die Palliativmedizin vervielfachen.
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