Karlsruhe

Kommentar um "5 vor 12": Karlsruhe kassiert § 217 StGB

Bundesverfassungsgericht: Verbot der geschäftsmäßigen Beihilfe zur Selbsttötung ist verfassungswidrig.
Bundesverfassungsgericht urteilt über Sterbehilfe-Verbot
Foto: Uli Deck (dpa) | Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Grundgesetz ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben ab. Die Entscheidung eines Einzelnen zum freiwilligen Suizid muss von Staat und Gesellschaft „als Akt autonomer ...

Die katholische Auffassung, der zufolge Gott allein Herr über Leben und Tod ist, ist mit dem Menschenbild des Grundgesetzes unvereinbar. Das ist die für Katholiken wohl wichtigste Einsicht, die sich aus dem von vielen mit Spannung erwarteten Urteil des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts ergibt. Wie der Präsident des Bundesverfassungsgerichts und Vorsitzende Richter des Zweiten Senats, Andreas Voßkuhle, bei der Urteilsverkündung heute in Karlsruhe ausführte, schließe das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Staatsbürgers die „Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei auch Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen“. Ein Gesetz, das dies weitgehend verunmögliche, sei verfassungswidrig.

Was das Urteil bedeutet

Mit dem Urteil kassiert der Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts das „Gesetz zur Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung“, das der Deutsche Bundestag am 6. November 2015 beschlossen hatte, und erklärt den § 217, den das Gesetz dem Strafgesetzbuch damals hinzufügte, für nichtig. Dieser lautet:

„(1) Wer in der Absicht, die Selbsttötung eines anderen zu fördern, diesem hierzu geschäftsmäßig die Gelegenheit gewährt, verschafft oder vermittelt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Als Teilnehmer bleibt straffrei, wer selbst nicht geschäftsmäßig handelt und entweder Angehöriger des in Absatz 1 genannten anderen ist oder diesem nahesteht.“

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Unter „geschäftsmäßigem“ Handeln verstehen Juristen, „das nachhaltige (…) Betreiben oder Anbieten (gegenüber Dritten mit oder ohne Gewinnerzielungsabsicht“. Ab sofort sind damit – wie schon vor 2015 – nicht nur der Suizid sondern auch jede Form der Suizidbeihilfe wieder erlaubt. Sterbehilfevereine, wie der von Hamburgs ehemaligem Justizminister Roger Kusch gegründete Verein „Sterbehilfe Deutschland“, können damit wieder ihrem todbringenden Geschäft nachgehen.

Was das Urteil nicht bedeutet

Das Urteil bedeutet nicht, dass Suizidwillige künftig einen Anspruch auf Beihilfe zur Selbsttötung gegenüber Dritten gelten machen können. Auch Ärzte sind nach dem Urteil nicht verpflichtet, Sterbewilligen tödlich wirkende Präparate zu verschreiben. Dem stehen ohnehin bislang entsprechende Bestimmungen des Betäubungsmittelgesetz gegenüber, die von dem Urteil unangetastet bleiben.

Verboten bleibt auch die „Tötung auf Verlangen“ (§ 216 StGB). Ferner verbietet das Urteil dem Gesetzgeber nicht, die Tätigkeit von Sterbehilfevereinen künftig gesetzlich zu regulieren und dabei auch das Strafrecht in Anschlag zu bringen.

Folgen des Urteils

Die Gesamtheit der Folgen des Urteils lässt sich schwer abschätzen. Zu erwarten ist jedoch, dass Suizidhilfevereine ihre Arbeit wieder aufnehmen werden und sich – in schwierigen Situationen und bei schwerer Krankheit – nicht das Leben zu nehmen insgesamt begründungspflichtiger wird. Eine Entsolidarisierung der Gesellschaft mit Schwerkranken entgegenzuwirken, dürfte – wie in früheren Gesellschaften – zunehmend zu einer Aufgabe von Katholiken werden. Sie hat das Bundesverfassungsgericht heute noch einmal nachdrücklich daran erinnert, wo ihre eigentliche Heimat ist.

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Stefan Rehder Andreas Voßkuhle Bundesverfassungsgericht Deutscher Bundestag Roger Kusch

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