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Bürgergeldreform: Eine Frage der Menschenwürde

Sowohl das Grundgesetz als auch die katholische Kirche kennen das Recht auf ein menschenwürdiges Existenzminimum. An diesem Maßstab lässt sich die Bürgergeld-Reform beurteilen.
Kanzler Merz, Ministerin Bas bei der Vorstellung der neuen Grundsicherung
Foto: IMAGO/ESDES.Pictures, Bernd Elmenthaler (www.imago-images.de) | Naja, immerhin, ein Reförmchen ist es doch geworden. Jetzt muss die „neue Grundsicherung“ nur noch durch den Bundestag. Und dann wahrscheinlich vor das Bundesverfassungsgericht.

Bei all dem Koalitionsstreit um Wehrpflicht, Rente oder Verfassungsrichter ist dieser kleine Erfolg fast untergegangen: Beim Thema Bürgergeld hat sich das Bundeskabinett auf eine Reform einigen können, die durchaus schmerzhafte Anpassungen vorsieht. Eine Reform, die nach Informationen der Bild-Zeitung zwar nur etwa 86 Millionen Euro Ersparnis im Haushaltsjahr 2026 bringen und ab 2028 sogar Zusatzkosten verursachen soll (ursprünglich wollte Bundeskanzler Friedrich Merz noch rund fünf Milliarden Euro einsparen), macht sicherlich noch keinen „Herbst der Reformen“. Aber einen Anfang.

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Was wurde beschlossen? Künftig sollen versäumte Termine im Jobcenter unter anderem schneller Konsequenzen für die Transferempfänger haben: Schon beim zweiten verpassten Termin wird das Bürgergeld, künftig „neue Grundsicherung“ genannt, um 30 Prozent gekürzt; bisher war eine gestaffelte Kürzung von zehn, 20 oder 30 Prozent vorgesehen. Der monatliche Regelsatz beträgt derzeit 563 Euro für Singles. Beim dritten verpassten Termin soll die Grundsicherung komplett gestrichen werden, im Folgemonat dann auch die Mietzahlung durch das Amt. Wird ein Jobangebot ohne Grund abgelehnt, streicht die Behörde die Grundsicherung ebenfalls für mindestens einen Monat komplett.

Die große Frage bei der neuen Härte ist, ob sie vor Gericht Bestand haben wird. Denn in Urteilen 2010 und 2019 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass bei Sozialleistungen nicht beliebig gekürzt werden kann. So heißt es im „Hartz-4-Urteil“ von 2010: „Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG sichert jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind.“ Kürzungen an Hartz 4, Bürgergeld und Co. gelten seither als schwierig bis unmöglich, da die Menschenwürde absolut gilt, nicht abwägungsfähig ist, also nicht durch andere Vorschriften relativiert werden darf. Im Urteil von 2019 heißt es aber auch, dass Leistungen nur dann zur Verfügung gestellt werden müssten, wenn Menschen wirklich nicht selbst für ihre Existenzsicherung aufkommen könnten. Auch könne der Staat von den Empfängern verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst mitzuwirken.

Wer nicht zum Termin erscheint, ist nicht hilfebedürftig?

Als Argumentationslinie, warum die neuen Streichungen legal seien, habe die Regierung sich – so sinngemäß Welt-Journalist Robin Alexander – darauf verständigt, dass diejenigen Grundsicherungsempfänger, die nicht mit dem Jobcenter kooperierten, ja offensichtlich gar keine „Hilfebedürftigen“ seien; sonst würden sie ja kooperieren. Eine tragfähige Konstruktion? Die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff kann sich, wie sie dieser Zeitung schreibt, durchaus „vorstellen, dass das Gericht mit bestimmten Maßgaben auch schärfere Sanktionen billigen würde als bisher“. Zwar habe das Gericht 2019 angenommen, dass Streichungen von 60 Prozent oder mehr unverhältnismäßig seien. Es sei aber umstritten, inwieweit dies auch für „erkennbar nicht gegebene Hilfebedürftigkeit“ gelte.

Sie hält es auch für möglich, dass Karlsruhe nun offener sein könnte für die allgemeine Erwägung, dass institutionelle Rahmenbedingungen „verhaltenswirksame Anreizwirkungen“ hätten. Argumentierten die Richter 2019 noch, es lägen „keine tragfähigen Erkenntnisse vor, aus denen sich ergibt, dass ein völliger Wegfall von existenzsichernden Leistungen geeignet wäre, das Ziel der Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit und letztlich der Aufnahme von Erwerbsarbeit zu fördern“, so könnten sie dies heute anders sehen: Womöglich wirken Kürzungen doch. Die Bundesregierung wäre aber gut beraten, im Fall einer Klage mit empirischen Erkenntnissen zu argumentieren, meint Lübbe-Wolff. Dazu könnten auch Ländervergleiche gehören: „Es fällt ja zum Beispiel auf, dass der Anteil der Bürger, die Sozialleistungen ähnlich dem Bürgergeld beziehen, in Österreich und der Schweiz deutlich niedriger liegt als in Deutschland, ohne dass man dort deshalb mehr soziales Elend anträfe als bei uns.“ Also müsse es an den Rechtsregeln liegen. Kürzungen, die zu Wohnungslosigkeit führten, würden aber nach wie vor als kontraproduktiv angesehen, weil sie der Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt entgegenstünden.

Von Pacem in Terris zu Thomas von Aquin

Der Streit um die Bürgergeldreform, so sie denn in der derzeitigen Form in Kraft treten sollte, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit also erst vor dem Bundesverfassungsgericht enden. Einstweilen lohnt sich für den interessierten Katholiken aber auch die Auseinandersetzung mit der grundsätzlichen Dimension. Denn die Argumentationsfigur, nach der der Staat aufgrund der Menschenwürde das Grundrecht auf ein Existenzminimum zu gewährleisten habe, findet sich ganz ähnlich auch in Lehrtexten der katholischen Kirche. Erstmals heißt es in der einschlägigen Sozialenzyklika „Pacem in terris“ des Konzilspapstes Johannes XXIII. von 1963: „Bezüglich der Menschenrechte, die Wir ins Auge fassen wollen, stellen Wir gleich zu Beginn fest, daß der Mensch das Recht auf Leben hat, auf die Unversehrtheit des Leibes sowie auf die geeigneten Mittel zu angemessener Lebensführung. Dazu gehören Nahrung, Kleidung, Wohnung, Erholung, ärztliche Behandlung und die notwendigen Dienste, um die sich der Staat gegenüber den einzelnen kümmern muß.“ Dieses Recht (und alle anderen) begründet die Enzyklika mit der Personalität des Menschen, der „eine Natur, die mit Vernunft und Willensfreiheit ausgestattet ist“ habe, und somit „Rechte und Pflichten, die unmittelbar und gleichzeitig aus seiner Natur hervorgehen“, sowie mit der „Würde“ dieser „menschlichen Person“. Diese Formulierungen klingen in heutigen Ohren schlüssig. Für die Kirche waren sie, 15 Jahre nach der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen 1948, aber doch ein Novum: Erstmals wurden hier explizit (Anspruchs-)Rechte definiert. Wie kam der Vatikan dazu?

Elmar Nass, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Kölner Hochschule für Katholische Theologie, erkennt in der römischen Hinwendung zum Konzept der Anspruchsrechte einen Traditionsstrang, der bis zu Thomas von Aquin zurückreicht. Dessen Argument gehe so: Allen Menschen gehöre alles, weil eigentlich alles Gott gehört. Weil aber schlecht gewirtschaftet werde, wenn allen alles gehöre, sei Privateigentum notwendig, sozusagen als sekundäres Naturrecht, nicht direkt von Gott gegeben, sondern der „conditio humana“ geschuldet. Das Privateigentum könne man aber in drei Kategorien einteilen: den Teil, der für die Sicherung der schieren Existenz notwendig sei – Essen, Trinken, Kleidung, um nicht zu erfrieren. Dann, darauf aufbauend, das Eigentum, das zum Statuserhalt notwendig sei – etwa spezielle Berufskleidung. Schließlich der Luxus. Wenigstens auf die erste Kategorie habe der Mensch, da ja eigentlich alles allen gehöre, einen naturrechtlichen Anspruch, auch gegenüber seinen Mitmenschen.

Zu christlicher Politik gehört auch Realismus

Damit habe Thomas zwar noch nicht an einklagbare Anspruchsrechte gedacht, der gedankliche Sprung sei dann aber gar nicht mehr so weit. Der Sozialstaat, so Nass, nehme so gesehen nur die naturrechtlichen Ansprüche, die Bedürftigen im Sinne ihrer Lebenserhaltung als Gottes Geschöpfe zustünden, ernst und organisiere sie im Sinne einer rechtsstaatlichen Umsetzung des (katholischen) Solidaritätsprinzips. Dass sich die Kirche noch bis ins 20. Jahrhundert mit der expliziten Formulierung von Anspruchsrechten schwergetan habe, liege an einem gewissen Konflikt der Solidarität mit der freiwilligen Barmherzigkeit. Denn werde alles von einem überbordenden Sozialstaat geregelt, könne die Empathie mit Bedürftigen darunter leiden.

Dass der Staat ein menschenwürdiges Existenzminimum gewähren sollte, sieht die Kirche also genauso als unverzichtbar an wie das deutsche Verfassungsgericht. Aber verstößt die angedachte Reform denn potenziell gegen die „Menschenwürde“? „Ein schillernder Begriff“, sagt Nass. Aus seiner Sicht sei „das Kriterium eingelöster Menschenwürde“ die „positive Freiheit, dass der Mensch auch in die Lage versetzt wird, seine Talente zur Entfaltung zu bringen“. Dass eine Streichung der Sozialwohnung dazu beiträgt: auch aus katholischer Sicht eher unwahrscheinlich. Andererseits sei diese positive Freiheit auch mit dem Begriff der Subsidiarität zusammenzudenken: Der Einzelne habe die Verpflichtung, seine Talente zur Entfaltung zu bringen. Wenn er dem nicht nachkomme, seien entsprechende Sanktionen gerechtfertigt.

Nun ist der derzeitige Regierungsentwurf, Verschärfungen hin oder her, keine grundstürzende Reform. Und das, obwohl der Bundeskanzler noch im August tönte, der „Sozialstaat, wie wir ihn heute haben“, sei „mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar“. Denkbar also, dass bald noch über weit mehr als Strafen nach dem zweiten versäumten Termin diskutiert wird. Wie wäre dann im Zweifelsfall damit umzugehen, dass ein System, das mit Berufung auf die absolut geltende, universale Menschenwürde Mindeststandards setzt, möglicherweise langfristig tatsächlich der Pleite entgegengeht? „Ein Sozialstaat kann natürlich nicht etwas als Menschenrecht oder im Sinne der Menschenwürde deklarieren, was ihn selbst zum Kollaps führt“, meint Nass, denn das widerspreche dann ja wieder zutiefst dessen eigenem Anspruch. So müsse der Staat immer auch im Blick haben, was finanzierbar ist; auch zu einer christlich verantworteten Politik gehöre Realismus. Gut möglich, dass dieser Realismus in den kommenden Jahren noch deutlich stärker gefordert sein wird.

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