Wenn Soziales und Gerechtigkeit zusammenkommen, entsteht manchmal ein Kampfbegriff: „Soziale Gerechtigkeit“ – verbunden mit einer Anspruchshaltung auf einen Ausgleich. Der Ausbau des Sozialstaates sollte nun aber mit einer Konsequenz verbunden sein: Es stehen nicht nur Ansprüche gegen den Sozialstaat im Raum, sondern umgekehrt könnten auch Ansprüche des Sozialstaates gegen Menschen begründet werden, insbesondere wenn diese Hilfe erhalten. Hilfe dient grundsätzlich als Hilfe zur Selbsthilfe. Nur in Notlagen, wenn ein Mensch sich nicht selbst helfen kann, ist Hilfe des Staates ohne Gegenleistung des Einzelnen angebracht. Aber sonst? Der Staat kann verlangen, dass jeder auch einen eigenen Beitrag leistet. Damit aus einer Einseitigkeit der Hilfestellung eine Gegenseitigkeit werden kann, nach dem Motto: fördern und fordern.
Wer gefördert wird, der wird auch gefordert, bald wieder selbstständig auf „eigenen Beinen zu stehen“. Dabei soll nicht die finanzielle Ersparnis des Staates im Vordergrund stehen, sondern die Menschenwürde, die gebietet, dass der Mensch möglichst sein Leben selbst gestalten könnte und sollte. Ein Paternalismus des Wohlfahrtsstaates impliziert ein Über- und Unterordnungsverhältnis zum Menschen. Das widerspricht auch dem Prinzip der Subsidiarität. Der Satz des US-amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy ist hier angebracht: Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.
Wer fördert, darf auch fordern
Der Sozialstaat darf also die Gegenfrage stellen: Auch wenn du (jetzt) bedürftig bist, kannst du dich auch für deinen Staat, deine Mitmenschen einsetzen? – wenn du dazu in der Lage bist. Dabei fragt der Staat nicht nach dem „Können“, sondern nach dem „Wollen“. Das Unmögliche kann nicht verlangt werden. Aber der Bereich des Möglichen darf abgefragt werden: Wer fördert, darf auch fordern. Der Sozialstaat steht vor der Herausforderung, dass Selbstlosigkeit ein seltenes Gut ist und dass Partikularinteressen stark sein können. Und dann muss der Sozialstaat das Allgemeine betonen: Jeder leiste seinen Beitrag, je nach Leistungsfähigkeit. Das Leistungsfähigkeitsprinzip des Steuerstaates darf auch auf den Sozialstaat angewendet werden.
Wer Bürgergeld empfängt und gemeinnützige Arbeit leisten kann, der möge dieses tun. Ein soziales Pflichtjahr für Jugendliche ist auch ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit. Und wenn das Lebensalter steigt und damit die Rentenbezugsdauer länger wird, dann darf der Staat sich auch Gedanken über einen späteren Renteneintritt machen. Der Sozialstaat darf auch die Gegenfrage stellen, die zur modernen Gretchenfrage werden könnte: Und du? Wie kannst du dem Staat dienen?
Der Autor ist Vorsitzender der „Joseph-Höffner-Gesellschaft für Christliche Soziallehre“.
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