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Zur Sonne, zur Freiheit

Manche halten Japan für die einzige Europa ebenbürtige Zivilisation. Das Recht auf Bürgergeld erschiene hier aber abstrus. Was sagt das über die europäische Kultur?
Mount Fuji, Skyline von Tokio
Foto: imago stock&people (imago stock&people) | Skyline von Tokio, im Hintergrund Mount Fuji.

Nippon – das Land der aufgehenden Sonne, so nennt sich Japan nach alter Tradition selbst. Vor vier Wochen waren wir dort, ein Freund, selbst Sozialethiker und Schüler von mir, und ich: Tokio, im Fuji-Nationalpark, in der alten Kaiserstadt Kyōto und natürlich in Nagasaki, dem japanischen Rom, wo, im Gegensatz zu 0,5 Prozent Katholikenanteil an der japanischen Gesamtbevölkerung, 5 Prozent katholisch sind, mitsamt katholischer Universität, wo wir mit Professor Araki, katholischer Freund und ausgezeichneter Kenner von Land und Geschichte, die Stätten der Märtyrer von Nagasaki und der verborgenen Christen in der Zeit nach der Missionierung durch Franz Xaver besuchten. Immer wieder war uns präsent die Frage des Kämmerers in der Apostelgeschichte: „Was hindert, daß ich getauft werde?“ Kein Land der Welt vermutlich zeigt sich so resistent gegenüber christlicher Mission wie Japan, bis heute. Überall ist das Christentum anerkannt und respektiert – aber es gibt kaum Bekehrungen, im Gegenteil, so bestätigte uns in Nagasaki der Erzbischof: Die Zahl der Christen nimmt langsam, aber stetig ab.

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Im Gepäck hatten Marco und ich natürlich das berühmte Büchlein von Ruth Benedict „Chrysantheme und Schwert“ aus dem Jahre 1946 zu „Formen der japanischen Kultur“, worin sie erstmals überhaupt und auf Veranlassung der US-amerikanischen Regierung Roosevelt im Vorfeld des geplanten Abwurfs der Atombombe japanische Mentalität untersucht. Damals war die Intention der USA zu erkennen: Wird Japan nach dem Abwurf der Atombombe dem zu erwartenden Befehl des Tennō, des himmlischen Kaisers, zur bedingungslosen Kapitulation folgen oder sich in endlosem Guerillakrieg gegen die USA zerfleischen. Ruth Benedict beschrieb und siehe, so kam es: Das Land folgte einmütig und ohne mit der Wimper zu zucken dem Befehl des Kaisers. Japan folgt dem Vater, den Eltern, der Familie. Nichts gilt mehr und ist ehrenvoller. Chrysantheme und Schwert, Scham und Ehre sind seit Hunderten Jahren der Samurai-Herrschaft die Säulen der Gesellschaft. Ruth Benedict notiert: „Offene Mißachtung von Autorität wird aufs Strengste bestraft!“ Wer Ehre im Leib hat, folgt dem Vater, der Familie, dem Kaiser. Wie ganz anders hingegen Sophokles mit seiner Hauptfigur Antigone! Autorität? Nein, Gewissen! Und gegen die Autorität des Königs und Stiefbruders reklamiert sie: „Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da!“

Manche Zeitgenossen halten (mich eingeschlossen) Japan für die einzige Europa ebenbürtige Zivilisation außerhalb Europas. Das führt aber zu der interessanten Frage: Wenn Japan eine Kultur der Ehre und der Scham ist, wo man es außerhalb der Familie eher vermeidet, einem hilfsbedürftigen Menschen zu helfen, nicht aus Hartherzigkeit, sondern um ihn nicht zu beschämen, weswegen der japanische Sozialstaat ausgesprochen mager daherkommt: Was für eine Kultur ist Europa? Vielleicht tatsächlich, auf der Grundlage von altbabylonischen Gesetzestafeln, altägyptischem Totengericht und altisraelitischem Glauben an Jahwe, eine Kultur der Schuld. Eine Kultur des inneren Gewissens, das ehern und unbestechlich auf die immer gleichbleibende Pflicht des Menschen verweist: Ja, du bist der Hüter deines Bruders! Selbst (und gerade), wenn er nicht zur Familie gehört oder dir fremd und feindlich ist. Aus Sippenliebe entwickelt sich so Nächstenliebe, Fernstenliebe, Solidarität. Einlösen des Anspruchs eines anderen Menschen auf Hilfe durch mich und Recht auf Förderung. Das Recht auf Bürgergeld (oder soziale Grundsicherung) erschiene in Japan abstrus. Bei uns hingegen gehört es in irgendeiner Form zur gebotenen Form des Sozialstaates, der in sterblicher Weise den unsterblichen Gott abbildet, der doch selbst Abbilder von sich wollte: Abbilder seiner nicht begrenzten Liebe. Sozialstaaten fallen nicht vom Himmel? Doch, und letztlich fallen sie nur vom Himmel! Allerdings müssen sie auf Erden bezahlt werden. Und das ist ein anderes und neues Kapitel, jenseits von Japan.

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