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„Trick Mirror“ von Jia Tolentino: Generation Inszenierungssucht

Die US-Journalistin Jia Tolentino sucht in ihrer Essay-Sammlung „Trick Mirror“ nach dem Selbst hinter den Inszenierungen bei Instagram und Co.
Immer gut drauf?
Foto: George Mdivanian | Immer gut drauf und immer online: Die US-Journalistin Jia Tolentino hinterfragt in „Trick Mirror“ den Inszenierungsdruck im Internet.

Wenn mich etwas verwirrt, dann schreibe ich darüber, bis ich zu der Person werde, die ich auf dem Papier sehe: glaubhaft, vertrauenswürdig, intuitiv und klar.“ Mit diesen Worten leitet die in den USA aufgewachsene Autorin und Journalistin Jia Tolentino in ihre spannende und lesenswerte Essay-Sammlung „Trick Mirror“ ein.

Tolentino, Jahrgang 1988 und seit vielen Jahren Journalistin beim renommierten US-Magazin „The New Yorker“, hat laut eigenen Angaben an den Aufsätzen für das Buch zwischen dem Frühjahr 2017 und Herbst 2018 geschrieben – für die Journalistin eine Zeit voller Konflikte: Die Wahl Donald Trumps veränderte das politische Klima in den Vereinigten Staaten, Technologien wie die sozialen Medien prägten den sozialen und kulturellen Diskurs neu – und Identitätspolitik und Debattenkultur verwickelten sich miteinander und brachten neue Extreme auf beiden Seiten des politischen Spektrums hervor.

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Diese Entwicklungen ziehen sich wie Sprünge durch den Spiegel von Tolentinos Identität, die sie in ihren Texten aufbaut. Sie zeigt sich als Zehnjährige, die in den Neunzigern das Internet entdeckt. Damals noch eine weit personalisierbare Fläche – Tolentino beschreibt es als Dorf –, beobachtet die Autorin in Rückblenden, wie sich das Internet immer mehr zu einer Stadt entwickelt. Bereits in seiner harmloseren Zeit habe das Internet eine Möglichkeit geboten, die eigene Identität zu visualisieren und anderen zu präsentieren, angetrieben, laut Tolentino, vom „Traum von einem besseren, wahrhaftigeren Ich im Internet“.

Doch ab 2012 hat sich laut Tolentino ein Wendepunkt ereignet: „Während wir früher die Freiheit hatten, online wir selbst zu sein, waren wir nun online an uns selbst gekettet, und das machte uns unsicher.“ Im zum damaligen Zeitpunkt durchstartenden „Web 2.0“ war die Anonymität in den sozialen Netzwerken weitestgehend verschwunden und die Möglichkeit der Selbstvermarktung verstärkte nun auf einmal den Druck, das eigene Selbst gekonnt in Szene zu setzen. Tolentino beschreibt treffend den von ihr selbst so bezeichneten „Handlungsanreiz“, der das Internet vom echten Leben unterscheidet. Denn – um online gesehen zu werden, muss man handeln: Kommentieren, Liken, retweeten. Der Anreiz, eine Meinung zu haben, um gesehen zu werden, verbindet Tolentino mit Phänomenen wie „virtue signaling“, ins Deutsche mit „Tugendprotzerei“ übersetzt: Es sei heute im Internet einfacher, über Moral zu sprechen und andere Menschen nach ihren Meinungen zu verurteilen, als tatsächlich moralisch zu handeln.

„Die Autorin und Journalistin exponiert sich selbst in der Tradition der Millenial-Blogger,
zersplittert sich in ihre Identitäten als Tochter philippinischer Einwanderer
und als Frau, dekonstruiert Gott und die Welt“

Jia Tolentino beobachtet das Internet scharf und gewinnbringend: Deutlich wird, dass sie das Internet als Raum zur Entfaltung gleichzeitig liebt und seine kommerziellen Entwicklungen beklagt, ohne in Fatalismus oder Schuldzuweisungen abzudriften. Gewiss: Tolentinos Weltanschauung tendiert deutlich nach links, sodass es nicht wundert, dass sie Phänomenen wie der alternativen Rechten in den USA und ihrer Internetpräsenz als rechte „Trolle“ kritisch gegenübersteht. Trolle verstoßen bewusst gegen diverse Internet-Etiketten durch haarsträubende Beleidigungen oder Kommentare – und sind fast immer anonym. Sie interpretiert das Phänomen überraschenderweise als eine Reaktion auf die übermäßige Sichtbarkeit im Internet und den impliziten Anspruch, für seine eigene Außenwirkung verantwortlich zu sein.

Die Trump-Wahlen 2016 beweisen laut Tolentino zudem, dass dieses Internet-Phänomen mittlerweile auf die Realität einwirkt – und so schwingt in ihrem Text die Sorge mit, was es für die Zukunft zu bedeuten hat, wenn Politik maßgeblich durch eine Medienform der Verkürzung, der Empörung und Selbstreferenzialität geprägt wird. Tolentino arbeitet sich in ihren Essays nicht nur an äußeren Phänomenen, sondern immer auch an sich selbst ab, gleichwohl sie die Unzuverlässigkeit von Selbsteinschätzungen in dem Essay „Mein Reality-TV-Ich“ selbst thematisiert.

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Ein Bild der Autorin mit 16 Jahren wird erkennbar

Die Autorin lässt in diesem Artikel ihre Zeit bei der Reality-TV-Serie „Boys vs Girls: Puerto Rico“ Revue passieren: Zwischen Selbsteinschätzungen, Erinnerungen, Passagen und Zitaten aus den Aufnahmen und den Reaktionen von Freunden kristallisiert sich das Bild der 16-jährigen Tolentino heraus. Zuerst die Oberflächlichkeiten: Die ehrgeizige Überfliegerin, zwanghafte Tagebuchschreiberin, evangelikale, etwas oberflächliche Christin – bis die Spannungen darunter ans Licht kommen:

Die jugendliche Tolentino ist selbstwidersprüchlich, überreflektiert, inszeniert sich sogar vor sich selbst, ohne an Authentizität einbüßen zu wollen. Die Essayistin schwingt zwischen Eitelkeit und Demut hin und her. Der Kampf um das Ich kommt schließlich in einer transzendenten Erfahrung zur Ruhe – in der Erinnerung an den Besuch einer atemberaubenden, biolumineszenten Meeresbucht, wo die Inszenierung dem Staunen Platz macht: „Es war so viel Glück in mir, dass ich hätte platzen können. (…) Da waren keine Kameras, und sie hätten es sowieso nicht einfangen können. Ich sagte mir: Vergiss das nicht, vergiss das bloß nicht.“

Online sind Moralismus und Empörung Trumpf

Identität ist für Tolentino eng mit dem eigenen Geschlecht verknüpft: Als zwanghafte Schriftstellerin, die sich scheinbar ständig selbst erzählt, versteht sie ihr Frausein als Herausforderung. In „Pure Heldinnen“ beobachtet sie, dass in Kinderbüchern die Heldinnen glücklich sind, als Jugendliche traurig und als Erwachsene meistens dem Unglück geweiht sind: „In Kinderbüchern stehen junge weibliche Figuren für sich selbst, und ihre Traumata, worin auch immer sie bestehen, sind zweitrangig.“ Tolentino schiebt die Schuld dafür nach bester Simone de Beauvoir-Manier auf die Ehe: „Sie (die weiblichen Kinderfiguren) – oder genauer gesagt ihre Schöpferinnen – verstehen, dass das Erwachsensein sich bedrohlich über ihnen zusammenbraut, und das bedeutet Ehe und Kinder, was letztlich das Ende bedeutet.“

Selbst wenn man nicht mit allem einverstanden sein dürfte, was Jia Tolentino zu Ehe und Familie schreibt, sind ihre Beobachtungen darüber, wie sich das Verständnis von Ehe in der Literatur verändert hat, lesenswert. Denn sie weist nicht die Ehe als solche ab, sondern „die aufgeblähte Stellung der Ehe“, die Rollenvorgaben moralisiert – Tolentino ist übrigens selbst verheiratet und Mutter.

Zersplitterte Identitäten

Auch das Personsein als Christ thematisiert Tolentino. Als Leinwand dient ihr dafür die Stadt, in der sie aufgewachsen ist: Houston. Eine Stadt bewusster Selbstwidersprüche, in der die unheilvolle Ehe von Kapitalismus und Christentum, ein heuchlerisches Wohlstandsevangelium, Wurzeln geschlagen hat, ist der Hintergrund für Tolentinos Reflektionen über Mystizismus und Drogen, allen voran über die Partydroge MDMA, die auch als Ecstasy bekannt ist. Wie bei allem in „Trick Mirror“ sieht der Leser hier Figuren wie C.S. Lewis, Prediger Joel Osteen oder DJ Screw von Houston durch das gebrochene Spiegelbild Tolentinos:

Die Autorin und Journalistin exponiert sich selbst in der Tradition der Millenial-Blogger, zersplittert sich in ihre Identitäten als Tochter philippinischer Einwanderer und als Frau, dekonstruiert Gott und die Welt. Ihre scharfe Beobachtungsgabe ist herausfordernd, aber gewinnbringend. Was scheinbar noch fehlt, ist das Heraustreten aus dem Spiegelkabinett, um alles wieder zusammenzusetzen – doch das ist bei der Lektüre von „Trick Mirror“ die Aufgabe des Lesers, nicht des Textes oder der Autorin


Jia Tolentino: Trick Mirror. Über das inszenierte Ich.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main, 2021, 368 Seiten, ISBN: 978-3-10-397056-2, EUR 22, –

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